Auftragseingang

Aufträge für deutsche Industrie stapeln sich

Die deutsche Industrie sitzt auf einem Auftragspolster, das nie dicker war. Was wie eine gute Nachricht klingt, ist ein zweischneidiges Schwert, denn Personal- und Materialmangel bremsen das Abarbeiten der Aufträge.

Aufträge für deutsche Industrie stapeln sich

ast Frankfurt

Die deutsche Indus­trie hat ihr Auftragspolster im August noch einmal gestärkt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) vom Dienstag war der reale (preisbereinigte) Auftragsbestand im verarbeitenden Gewerbe 0,3% höher als im Juli. Damit trotzt das verarbeitende Gewerbe zwar auf den ersten Blick der drohenden Rezession. Entwarnung wollen Ökonomen aber nicht geben: Denn die Lieferschwierigkeiten, die das Abarbeiten der Aufträge behindern, bleiben bestehen – und das voraussichtlich länger als bislang angenommen.

Im  Vergleich zum Vorjahresmonat registrierten die Statistiker ein Auftragsplus von 11,1%. Seit Februar dieses Jahres verzeichnet die Indus­trie damit jeden Monat einen neuen Höchststand an offenen Aufträgen seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2015 (siehe Grafik). Die Reichweite stagniert bei 8,0 Monaten. Sie gibt an, wie lange theoretisch bei gleichbleibendem Umsatz ohne Neubestellungen produziert werden müsste, um die bereits vorhandenen Aufträge abzuarbeiten. Bei Herstellern von Investitionsgütern ist die Reichweite mit 11,8 Monaten überdurchschnittlich hoch.

Die offenen Aufträge aus dem Inland erhöhten sich im August um 0,1% zum Vormonat, die aus dem Ausland um 0,5%. Bei den Herstellern von Investitionsgütern wie Maschinen, Anlagen und Fahrzeugen nahm der Bestand um 0,3% zu, bei den Konsumgüterproduzenten sogar um 1,8%. Dagegen schrumpfte er bei den Herstellern von Vorleistungsgütern um 0,1%.

Sehr viele offene Stellen

Als Grund für den Auftragsstau führen die Destatis-Experten unter anderem den anhaltenden Materialmangel an: „Neben hohen Energiekosten für die Industriebetriebe führt die anhaltende Knappheit an Vorprodukten nach wie vor zu Problemen beim Abarbeiten der Aufträge“. Auch der zunehmende Arbeitskräftemangel in nahezu allen Branchen dürfte einen Teil zu den Schwierigkeiten beim Abarbeiten der Aufträge bei­tragen.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meldet so viele offene Stellen wie nie: 1,93 Millionen Stellen blieben im zweiten Quartal unbesetzt. Auch der Index für Arbeitskräfteknappheit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erreichte im August mit 5,2 Zählern ein neues Allzeithoch. Der Mangel an geeigneten Mitarbeitern kann gravierende Folgen für die Industrieproduktion haben. Einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zufolge fürchten vier von fünf Unternehmen, dass auf ihre Beschäftigten Mehrbelastungen zu­kommen oder ihre Arbeitskosten steigen werden. Die Folge: Sie lehnen Aufträge ab, reduzieren das Angebot – oder fahren die Produktion zurück.

Volkswirte sprechen zwar von einem komfortablen Auftragspolster. „Doch ein sanftes Ruhekissen für einen sorglosen Schlaf ist es nicht“, sagt DekaBank-Ökonom Andreas Scheuerle. So entferne sich die Reich­weite des Auftragsbestands in den Vorleistungsgüterbranchen von ihrem Allzeithoch – besonders stark in energieintensiven Branchen. „Ein dickes Auftragspolster nützt eben nichts, wenn es zu teuer wird, die Aufträge abzuarbeiten“, sagt Scheuerle.

Lieferengpässe nehmen zu

Hinzu kommt, dass sich die Lieferengpässe zuletzt wieder verstärkt haben. Nach einer zwischenzeitlichen Entspannung klagten im September 65,8% der vom Ifo-Institut befragten Unternehmen über Materialknappheit – nach 62% im August. „Die erhoffte nachhaltige Entspannung ist leider ausgeblieben“, sagt dazu Klaus Wohlrabe, Leiter der Ifo-Umfragen. „Eine Stützung der Wirtschaft in der Rezession fällt somit erst einmal aus.“

Wesentliche Ursache der anhalten Materialknappheit sei zwar der Ukraine-Krieg, aber „zum Teil spiegeln sich darin dauerhafte Entwicklungen wider, die Folge weltweiter Änderungen in der Produktionsstruktur sind – etwa der zunehmende Bedarf an Halbleitern oder an Indus­trie-Rohstoffen“, konstatiert Ifo-Forscher Joachim Ragnitz. Daher sei es keineswegs selbstverständlich, dass sich die Beschaffungsprobleme in absehbarer Zeit auflösen werden.

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