Boris Johnson will im Herbst gehen
Von Andreas Hippin, London
Boris Johnson hat einen Weg gefunden, das Amt des britischen Premierministers einigermaßen würdevoll abzugeben. „Es ist jetzt der klare Wille der konservativen Unterhausfraktion, dass es einen neuen Führer der Partei und damit einen neuen Premierminister geben soll“, sagte er bei einer eilends angesetzten Pressekonferenz vor der Tür von 10 Downing Street, nachdem er zuvor für applaudierendes Publikum gesorgt hatte. Er habe sich mit Graham Brady, dem Vorsitzenden des 1922-Komitees, geeinigt, dass der Auswahlprozess für den nächsten Chef der Tories nun beginnen soll. Der Zeitplan dafür werde in der kommenden Woche veröffentlicht. Gewählt wird ein neuer Parteichef aber wohl erst auf dem Parteitag im Herbst. Er werde das Amt des Premierministers so lange kommissarisch wahrnehmen, kündigte Johnson an.
Das sorgte für Empörung bei seinen Gegnern, die mit einem schnelleren Abgang gerechnet hatten. Brady hatte Johnson offenbar klargemacht, dass ihm ein weiteres parteiinternes Misstrauensvotum droht. Es gab dem Vernehmen nach eine Mehrheit, die Regeln so zu ändern, dass sich der Premier nicht erst in einem Jahr erneut den Parlamentariern stellen muss. Einigen Schätzungen zufolge hätten sich dabei gerade noch 100 der 358 Unterhausabgeordneten hinter ihn gestellt. Nun versuchte Johnson, den Eindruck zu erwecken, den Zeitpunkt seines Rücktritts selbst gewählt zu haben. Beifall bekam er dafür unter anderem von seiner Frau Carrie, dem prominenten Brexiteer Jacob Rees-Mogg und Kulturministerin Nadine Dorries.
Schulden, Inflation, Rezession
Alles in allem hielt er sich damit zwar länger im Amt als Tony Blairs Nachfolger Gordon Brown (Labour). Doch Johnsons Vorgängerin Theresa May, die nach dem unrühmlichen Abgang von David Cameron als Notlösung an die Macht gelangte, hielt länger durch. Fange vieles an und bringe nichts zu Ende, scheint das Leitmotiv zu sein, unter dem sich die viele politische Weichenstellungen Johnsons zusammenfassen lassen. Am Ende seiner Amtszeit ist der Schuldenberg des Landes um fast 600 Mrd. Pfund gewachsen, das Bruttoinlandsprodukt beginnt zu schrumpfen und die Teuerungsrate steuert auf 10 % zu. Doch kann man ihm weder für die Pandemie noch für den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die Energiepreise die Schuld zuschieben.
Wofür man ihn allerdings verantwortlich machen kann, ist das auch sechs Jahre nach dem Brexit angespannte Verhältnis mit der EU. Der Streit um das Nordirland-Protokoll ist festgefahren. Eine Lösung zeichnet sich nicht ab. Überzeugte „Remainer“ wie der ehemalige Verteidigungsminister Michael Heseltine mögen der Meinung sein, dass mit Johnson auch der Brexit Geschichte sein wird. Doch gibt es an der Parteibasis wenig Appetit auf einen Wiedereintritt in die Staatengemeinschaft zu schlechteren Konditionen. Die unter Johnson vollzogene Aufblähung des Staatsapparats, die Erhöhung von Steuern und Abgaben gehört nicht zu den wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die sich im Wahlprogramm seiner Partei finden. Man darf gespannt sein, ob sein Nachfolger das wieder in den Griff bekommen wird.
Eine weitere Großbaustelle ist die Klimapolitik. Johnson gefiel sich auf dem Klimagipfel in Glasgow als Weltenretter neben dem BBC-Tierfilmer David Attenborough. Doch hatte er keine Lösung dafür anzubieten, wie der Übergang in die Nullemissionswirtschaft bis 2050 bewältigt werden soll. Technologien wie die CO2-Abscheidung und Speicherung oder Wasserstoffantriebe, die man bei der Formulierung der Klimaziele offenbar vorausgesetzt hatte, müssen sich erst noch bewähren. Das neue Atomkraftwerk Hinkley Point C in Somerset geht frühestens im Juni 2027 ans Netz. Für die von Johnson propagierte stärkere Nutzung der Atomenergie fehlen Investoren. Und so überlässt der scheidende Premier die unangenehmen Entscheidungen seinem Nachfolger.