Otmar Issing

„Die Einstellung der EZB ist widersprüchlich“

Der Ex-Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank über die jüngste Entscheidung der Notenbank, die Gefahr steigender Inflation und die Zukunft Europas

„Die Einstellung der EZB ist widersprüchlich“

Herr Professor Issing, trotz einer sich abzeichnenden oder erwarteten starken Konjunkturerholung sind die Zentralbanken weltweit weit entfernt von einem Ausstieg aus den beispiellosen Maßnahmen des Anti-Pandemie-Kampfes. Ist das angemessen oder wäre es Zeit, den Exit einzuläuten?

Lassen Sie mich zunächst festhalten: Dieser Wirtschaftsrückgang ist kein üblicher Konjunktureinbruch, sondern die wirtschaftliche Folge einer Pandemie. Was in einer solchen Situation nottut, ist eine Kompensation für den durch Maßnahmen des Lockdowns politisch erzeugten Nachfragerückgang und die Erhaltung von wettbewerbsfähigen Unternehmensstrukturen. Damit schlägt die Stunde der Finanzpolitik. Nur die Finanzpolitik kann und darf gezielt einzelnen Sektoren, Unternehmen und Haushalten helfen. Die Hilfen müssen zudem temporär sein. Die Geldpolitik spielt dabei nur eine Nebenrolle. Sie unterstützt den finanzpolitischen Kurs. Die Zentralbanken sorgen dafür, dass die Zinsen nicht abrupt steigen und die Volatilität auf den Finanzmärkten begrenzt bleibt.

Sie halten es also für angemessen, dass die US-Notenbank Fed oder auch die Europäische Zentralbank (EZB) keinerlei Anstalten machen, aus Null- und Negativzinsen und den Anleihekäufen auszusteigen?

Die Pandemie ist noch in vollem Gange. In einer derart unsicheren Situation gibt es sicher keine guten Argumente, die Geldpolitik zu straffen. Die Zentralbanken sollten sich aber jetzt bereits strategisch auf den Exit vorbereiten. In der Zukunft wird entscheidend sein, ob die Zentralbanken weltweit den Willen haben, rechtzeitig umzusteuern. Das jüngste Verhalten der EZB macht da wenig Hoffnung. Die EZB sieht schon einen minimalen Anstieg der Anleiherenditen – um 20 bis 30 Basispunkte – als Alarmsignal und versucht gegenzusteuern.

Die EZB hätte also gelassener auf den jüngsten Renditeanstieg reagieren sollen statt gleich vorübergehend deutlich höhere Anleihekäufe zu beschließen?

Ich halte die Einstellung der EZB für widersprüchlich. Die EZB versucht, wie andere Notenbanken auch, seit Jahren ebenso intensiv wie vergeblich, die Inflationsrate in Richtung von 2% zu erhöhen. Jetzt gehen die Inflationserwartungen etwas nach oben, das zieht die Renditen mit, und dann wird das gleich als alarmierendes Signal gesehen? Die EZB sollte den Renditeanstieg begrüßen, statt dem entgegenzuwirken. Im Übrigen reduziert der Anstieg der Inflation den Realzins; die Finanzierungsbedingungen sind insoweit sogar noch günstiger geworden.

Die Reaktion spielt auch rein in das Spannungsfeld von Fiskalpolitik und Geldpolitik. Bundesbankpräsident Jens Weidmann sagt, dass das Risiko einer fiskalischen Dominanz so akut sei wie lange nicht – also das Risiko, dass die Geldpolitik an den Bedürfnissen der Fiskalpolitik ausgerichtet wird.

Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Das ist keine Gefahr mehr. Die fiskalische Dominanz ist de facto längst Realität. Das Gleiche gilt übrigens für die finanzielle Dominanz. Die Regierungen in den USA oder auch im Euroraum verlassen sich darauf, dass die Notenbanken die langfristigen Zinsen niedrig halten. Und die Finanzmärkte setzen immer mehr darauf, dass die Notenbanken eingreifen, wenn es nur etwas ungemütlich wird. Die Zentralbanken tun nichts, um diese Erwartungen oder diesen Eindruck zu zerstreuen. Ganz im Gegenteil.

Sehen Sie im Fall der EZB die Grenze zur monetären Staatsfinanzierung bereits überschritten und begrüßen Sie, dass Karlsruhe sich jetzt auch mit dem EZB-Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP befassen wird?

Es ist nicht so einfach auszumachen, wann diese Grenze genau überschritten wird. Aber sehen Sie: Die EZB wird in diesem Jahr vermutlich die gesamte staatliche Nettoneuverschuldung im Euroraum aufkaufen. Zugleich verfestigt sie mit ihrem Verhalten den Eindruck, dass schon geringe Zinsanstiege ein Übel sind und zu einer geldpolitischen Gegenreaktion führen. Die EZB nähert sich so immer mehr der Grenze zur monetären Staatsfinanzierung, die ihr nach dem EU-Vertrag verboten ist. Ein anderes gravierendes Problem ist: Indem die EZB einen Zinsanstieg in hoch verschuldeten Mitgliedstaaten verhindert, schaltet sie die Signale vom Kapitalmarkt komplett aus. Das ist bedenklich und gefährlich.

In den USA fordern Vertreter der auch in Teilen der regierenden Demokraten beliebten Modern Monetary Theory (MMT), dass die Zentralbanken einfach staatliche Defizite finanzieren und im Notfall die Regierungen mit Steuererhöhungen gegen eine zu hohe Inflation vorgehen.

Es gibt so viele wichtige Ziele wie den Kampf gegen den Klimawandel, soziale Gerechtigkeit oder Vollbeschäftigung. Wenn sich die Regierung um die Finanzierung all dieser Projekte keine Sorgen machen muss, das Geld selbst drucken kann, wird es unweigerlich zu einer massiven Ausweitung der Staatsausgaben und über kurz oder lang zu einem Anstieg der Preise auf breiter Front kommen. Zu erwarten, wie es die MMT tut, dass die Regierungen dann die Steuern rechtzeitig erhöhen und das überschüssige Geld aus dem Verkehr ziehen, offenbart einen Grad an politischer Naivität, der ans Absurde grenzt. Die Geschichte lehrt eine andere Botschaft. Und haben die meisten Staaten ihren Notenbanken nicht gerade aufgrund schlechter Erfahrungen mit dem politischen Einfluss auf die Geldpolitik den Status der Unabhängigkeit verliehen?

Womit wir schon beim heißdiskutierten Thema Inflation sind. Die Teuerung ist zu Jahresbeginn in den USA wie im Euroraum stärker angestiegen als erwartet. Die Notenbanken beschwichtigen. Unterschätzen die Notenbanker die Gefahr, dass die Inflation dauerhaft wieder stärker anziehen könnte, und überschätzen sie die eigenen Möglichkeiten, im Notfall gegenzusteuern?

Ich würde da zwischen dem Euroraum und den USA unterscheiden. Im Euroraum erleben wir einen temporären Preisschock. Die Inflationsrate ist deutlich gestiegen und in Deutschland könnte die Rate Ende des Jahres sogar bei 3% liegen. Das geht vor allem auf vorübergehende Faktoren wie die Anhebung der Mehrwertsteuer auf das vorherige Niveau zurück. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein solcher Preisschock in höhere Inflationserwartungen mündet, was dann zu höheren Lohnforderungen und mehr Inflation führt. Die Gefahr ist stets, dass aus einem temporären Preisanstieg ein inflationärer Prozess entsteht. Ich spreche nicht von Hyperinflation. Es geht aber darum, dass sich die Erwartung steigender Preise verfestigen kann. Diese Gefahr darf man nicht außer Acht lassen. In den USA ist das Problem noch sehr viel akuter.

Soll heißen?

In den USA könnte der inflationäre Prozess schon bald ganz andere Dimensionen annehmen als in Europa. Die gesamten Maßnahmen der US-Fiskalpolitik gegen den pandemiebedingten Wirtschaftseinbruch belaufen sich auf unglaubliche rund 6 Bill. Dollar. Wenn inzwischen selbst Ökonomen wie Larry Summers und Olivier Blanchard, die nicht gerade für eine Scheu vor Budgetdefiziten bekannt sind, vor einer Überhitzung der Wirtschaft und Inflation warnen, muss man das ernst nehmen. Es wird sich zeigen, ob die Fed rechtzeitig reagiert und sich aus der Umklammerung der Finanzpolitik befreit.

Und Sie sind da skeptisch?

Es sind leider Zweifel angebracht, ob die Fed den absehbaren Inflationsprozess rechtzeitig und entschlossen stoppen wird. Zu dieser Sorge trägt auch die neue Strategie der Fed bei. Wenn aber in den USA die Inflation stärker steigt, dann wird das Turbulenzen auf der ganzen Welt auslösen. Mit der Dominanz des Dollars auf den Finanzmärkten und der Bedeutung der USA als größter Wirtschaftsmacht wird auch die übrige Welt von solchen Entwicklungen nicht verschont bleiben. Deswegen sollte sich auch niemand einfach damit beruhigen, dass es in Deutschland und im Euroraum nur einen kurzfristigen Inflationsdruck gibt. Das kann sich alles ändern. Die Notenbanken müssen sich darauf vorbereiten, dass sie den Exit womöglich schneller angehen müssen, als sie derzeit denken.

Sie haben die revidierte Strategie der Fed angesprochen, die jetzt ein flexibles durchschnittliches Inflationsziel von 2% ansteuert, statt jedes Jahr aufs Neue 2%. Was ist daran das Problem?

Die Fed hat völlig offengelassen, wie viele Jahre mit Inflationsraten unter 2% sie in ihre Kalkulation bei der Ermittlung des Durchschnitts einbezieht. Und sie sagt auch nicht, wie lange und bis zu welcher Höhe sie eine Überschreitung der 2% tolerieren wird. Das erzeugt große Unsicherheit. Hinzu kommt die neue Asymmetrie beim Ziel der Vollbeschäftigung. Sie nimmt nun ein Unterschreiten der Vollbeschäftigung sehr viel ernster als das Risiko, dass es zu Inflationsgefahren kommt, wenn die Beschäftigung stark ansteigt. Diese neue Strategie trifft nun auf eine extrem expansive Fiskalpolitik. Das ist eine äußerst brisante Gemengelage.

Sehen Sie Parallelen zu den 1970er Jahren, als sich auch niemand höhere Inflation vorstellen konnte, bis es zum Ölpreisschock kam?

Es hat sich weltweit die Vorstellung verbreitet, das Inflationsproblem sei ein Phänomen der Vergangenheit. Dazu haben leider auch Warnungen beigetragen, dass wegen der extremen Ausdehnung der Geldmenge die Inflation vor der Tür stehe – was sich dann nicht bewahrheitet hat. Aber diese Warnung war in der Vergangenheit insofern unangebracht, als es hier zunächst um eine Ausdehnung der Zentralbankgeldmenge ging und nicht der relevanten Geldmenge M3 oder M1. Jetzt steigt auch die nachfragerelevante Geldmenge stark an. Das müssen die Zentralbanken ernst nehmen. Was Ihre konkrete Frage betrifft: Ich sehe durchaus Parallelen zu den 1970er Jahren. Auch der Ölpreisanstieg war ein eigentlich einmaliger Preisschock, der sich dann zu einem Inflationstrend entwickelt hat – auch, weil die Fed nicht gegengesteuert hat. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Fed damals die aktuellen Schätzungen zur Produktionslücke für bare Münze genommen hat. Die sind aber sehr unsicher und werden oft kräftig revidiert – so wie damals. Das heißt, die Fed hat damals eine Politik betrieben, die sie nicht verfolgt hätte, wenn sie richtige Informationen über den Output-Gap gehabt hätte. In der Pandemie sind Schätzungen der Produktionslücke nun noch unsicherer als sonst.

Wie sehr besorgt Sie vor dem Hintergrund, dass es auch in der EZB zumindest Sympathien für eine ähnliche Vorgehensweise gibt?

Es scheint klar, dass die asymmetrische Definition von Preisstabilität – unter, wenn auch nahe 2% – die Überprüfung nicht überleben wird. Das halte ich auch für richtig. Die Zeiten haben sich geändert. De facto gilt die asymmetrische Orientierung auch schon lange nicht mehr. Es ist aber etwas anderes, auch Inflationsraten oberhalb von 2% vorübergehend zu dulden, als das explizit anzustreben oder als Vorgabe zu machen. Damit begibt man sich auf einen gefährlichen Weg.

Würden Sie es auch für sinnvoll halten, das Ziel von „unter, aber nahe 2%“ auf ein klares Punktziel von rund 2% zu ändern? Wäre das der Transparenz hilfreich oder nährt das nur die Illusion von der Feinsteuerung der Inflation? Diese Definition geht stark auf Sie als ersten EZB-Chefvolkswirt zurück.

Die Tatsache, dass ich das damals befürwortet habe, bedeutet nicht, dass ich auch heute dafür bin. Mein Vorschlag im Oktober 1998 erfolgte in einem ganz anderen Umfeld. Die Inflationsrate im Euroraum ging damals in Richtung unter 1%. Das lag vor allem am Rückgang des Preises für Öl. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt ist es sinnvoll, ein Ziel von 2% zu setzen und das symmetrisch zu interpretieren. In ihrer Kommunikation darf die EZB aber keine Zweifel aufkommen lassen, dass die Preisstabilität nach wie vor höchste Priorität hat. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Ich prognostiziere keineswegs einen starken Anstieg der Inflation im Euroraum. Ich warne jedoch davor, das Risiko eines möglichen Inflationsprozesses nicht ernst zu nehmen.

Ein anderes wichtiges Thema der EZB-Strategieüberprüfung ist das Thema Klimawandel und Geldpolitik. Brisant ist speziell die Frage nach einer „grünen“ Geldpolitik, also etwa eine Bevorzugung „grüner“ Anleihen bei den Wertpapierkäufen. Kann sich die EZB da dem öffentlichen Druck wirklich dauerhaft widersetzen?

Die EZB darf in ihren Verlautbarungen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass auch sie den Klimawandel als größte Herausforderung für die Politik ansieht. Aber was kann die EZB konkret zur Lösung beitragen? Zweifellos führt der Klimawandel in vielen Bereichen der Wirtschaft zu Veränderungen und hat direkten Einfluss auf Wachstum, Beschäftigung, viele finanzielle Variablen – und auch auf die Inflation. Diese Faktoren gehen in die Prognosen und damit in die geldpolitischen Beschlüsse ein. Die Frage aber ist: Kann und soll eine Notenbank wie die EZB darüber hinaus eine „grüne“ Geldpolitik betreiben?

Und? Sollte sie?

Mit einer explizit „grünen“ Geldpolitik würde sich die EZB in eine gefährliche Lage begeben. Zum einen würde sie Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen kann. Die Geldpolitik kann nicht entscheidend zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen. Die unvermeidliche Enttäuschung würde am Ende dann auch der Reputation der Notenbank schaden. Zum anderen fehlt der Notenbank die demokratische Legitimierung. Die Bekämpfung des Klimawandels ist eine Aufgabe der Politik. Aus diesem politischen Feld sollte sich die EZB möglichst heraushalten.

Sie haben das Zusammenspiel von Zentralbanken und Finanzmärkten angesprochen. Die Lage ist schon bemerkenswert: Die Pandemie ist in vollem Gange und zugleich eilen die Aktienmärkte von Rekord zu Rekord. Haben sich die Finanzmärkte abgekoppelt von der Realwirtschaft? Und welche Rolle spielt da die Geldpolitik?

Die Rallye an den Börsen weltweit ist ohne die Liquiditätsschwemme der Zentralbanken nicht denkbar. Da gibt es wohl kaum zwei Meinungen. Je länger diese Geldschwemme und die Nullzinsen anhalten, desto fragiler wird das ganze Finanzsystem und desto größer wird die Gefahr eines Crashs. Das haben wir ja schon einmal erlebt. Vor der Weltfinanzkrise 2008 gab es auch eine erhebliche Ausweitung der Liquidität, die zu Übertreibungen an den Finanzmärkten beigetragen hat, die dann im Zusammenbruch endeten. Notenbanken sind nicht dazu da und sollten unter keinen Umständen versuchen, eine vermeintliche Vermögenspreisblase zum Platzen zu bringen. Das wäre eine Katastrophe. Aber sie können auch nicht so tun, als hätten sie mit all dem nichts zu tun.

Gibt es überhaupt einen Weg für die Zentralbanken, den Ausstieg vorzubereiten, ohne Verwerfungen an den Märkten auszulösen?

Das ist die große Herausforderung. Wenn sich die Wirtschaft nach Überwindung der Pandemie mutmaßlich sogar sehr kräftig erholt, wird der Punkt kommen, an dem ein Exit aus der expansiven Politik erforderlich ist. Und je länger der Anstieg der Vermögenspreise zuvor angedauert hat, desto stärker wirkt ein Zinsanstieg in Richtung Neuorientierung. Das heißt, die Fragilität der zukünftigen Situation hängt stark davon ab, wie gut sich die Notenbanken auf diesen Moment vorbereiten und den allmählichen Ausstieg finden. Deswegen ist es so gefährlich, wenn eine denkbare Inflationsentwicklung nicht rechtzeitig gestoppt wird. Je länger die Zentralbanken warten, desto stärkere Zinserhöhungen werden notwendig sein. Daraus könnte ein Fiasko auf den Finanzmärkten entstehen. Ganz davon abgesehen, dass die Regierungen weltweit so agieren, als blieben die niedrigen Zinsen für alle Ewigkeit bestehen.

In Europa wird zunehmend intensiv diskutiert, ob der Corona-Wiederaufbaufonds mit seinen 750 Mrd. Euro ausreicht – speziell im Vergleich zu den USA, die viel mehr Geld ausgeben. Sollte Europa fiskalpolitisch nachzulegen?

Das EU-Programm kommt als Hilfsprogramm sicher zu spät. Es geht jetzt aber darum, mit den Geldern zukunftsorientierte Investitionen zu tätigen, Strukturen zu verbessern und die einzelnen Länder endlich auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen. Die Gelder dürfen nicht wieder für staatlichen Konsum verwendet werden. Das ist jetzt der entscheidende Test, ob ein Land wie zum Beispiel Italien dazu fähig ist, die Hilfe der europäischen Partner sinnvoll zu nutzen. Das ist aber auch der entscheidende Test dafür, ob Europa in der Lage ist, einen solchen Prozess zu kontrollieren. Das rührt an die ganze politische Konstellation der EU, in der die Finanzpolitik nach wie vor eine nationale Domäne ist. Das ist also ein ganz entscheidender Testfall für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union.

Sollten die EU-Staaten denn jetzt fiskalpolitisch nachlegen?

Man sollte meines Erachtens jetzt nicht überlegen, ob man noch draufsatteln muss. Man sollte erst einmal dafür sorgen, dass die verfügbaren Gelder vernünftig eingesetzt werden. Es geht auch darum, sich für die Zukunft zu wappnen. Nehmen Sie als Beispiel Deutschland: Die Änderungen in der Rentenversicherung und im Gesundheitssystem – da sind für die Zukunft schon riesige Defizite programmiert. Deswegen ist jetzt auch für Deutschland nicht die Aufgabe zu überlegen, noch mehr Geld auszugeben, sondern rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen, wieder auf einen Pfad mit soliden öffentlichen Finanzen zurückzukehren. Es geht nicht um einen abrupten Kurswechsel. Der Ausstieg aus den Budgetdefiziten muss gesamtwirtschaftlich verträglich gestaltet werden.

Erstmals hat die EU-Kommission die Möglichkeit bekommen, sich in großem Stile am Finanzmarkt zu verschulden. Ist damit der Weg in die Fiskalunion unumkehrbar?

Der EU-Vertrag sieht vor, dass die Gemeinschaft grundsätzlich keine Schulden aufnimmt. Es gab zwar in der Vergangenheit schon Ausnahmen, aber die waren umstritten und deutlich limitiert. Eine solche Dimension wie jetzt hat es nicht im Entferntesten gegeben. Es wurde zwar hoch und heilig versprochen: Das ist eine einmalige Sache wegen der Pandemie. Aber wer die Geschichte Europas kennt, der hatte von Anfang an kein Vertrauen in diese Aussage. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass am Ende auch bei anderen Herausforderungen wie etwa dem Klimawandel ähnlich argumentiert wird. Auch vom deutschen Finanzminister kommen bereits Andeutungen, dass die Kreditaufnahme durch die EU ein Modell für die Zukunft sein könnte.

Und das wäre schlimm?

Den Weg in die Fiskalunion darf es nur auf eine demokratisch legitimierte Weise geben. Da bedarf es einer Änderung des EU-Vertrags, und in Deutschland braucht es wohl auch eine Änderung des Grundgesetzes. Das sind natürlich riesige Hürden. Eine Änderung des EU-Vertrags ist auf absehbare Zeit keine realistische Option. Aber es darf keine Fiskalunion durch die Hintertür kommen. Das wäre ein ganz gefährlicher Prozess und könnte zu einer extrem krisenhaften Entwicklung Europas führen, weil der Rückhalt in der Bevölkerung fehlen wird, jedenfalls in Ländern wie Deutschland, in Skandinavien oder in den baltischen Ländern. Europa lebt davon, dass sich die Bürger mit diesem Projekt identifizieren. Wenn man hier den Wählern nicht reinen Wein einschenkt und ihnen die Möglichkeit vorenthält, ihre Stimme abzugeben, ob sie eine engere Gemeinschaft wollen, ob sie noch mehr Kompetenzen nach Europa verlagern wollen oder nicht, untergräbt man die Identifizierung mit dem historischen Projekt „Europa“.

Das Interview führten Mark Schrörs und Stefan Reccius.

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