Peter Praet

„Die EZB bewegt sich auf dünnem Eis“

Die EZB beschleunigt den Ausstieg aus ihren Anleihekäufen, US-Notenbank Fed und Bank of England erhöhen ihre Leitzinsen: Ein Interview mit Ex-EZB-Chefvolkswirt Peter Praet über die Geldpolitik weltweit.

„Die EZB bewegt sich auf dünnem Eis“

Herr Praet, wenn Sie heute noch Notenbanker wären und zu entscheiden hätten – würden Sie sich mehr Sorgen machen wegen der hartnäckig sehr hohen Inflation oder wegen der Konjunkturrisiken infolge des Ukraine-Kriegs?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die Situation in Europa ist aber ganz sicher anders als in den USA. In den USA gibt es klare Argumente für eine deutliche Straffung der Geldpolitik. Die Situation in der Eurozone ist viel komplizierter. Für die Euro-Wirtschaft besteht derzeit gleichzeitig ein Inflationsproblem und ein Wachstumsrisiko, das meiner Meinung nach unterschätzt wird.

Das heißt?

Die Euro-Wirtschaft wird von einem externen Schock getroffen, der das Bruttoinlandsprodukt um 2,5% senken könnte – wobei die geopolitischen Unsicherheiten nicht berücksichtigt sind. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem die Eurozone gerade erst wieder das BIP-Niveau von vor der Krise erreicht hatte. Das Risiko eines geldpolitischen Fehlers ist ziemlich hoch, auch wegen der Ungewissheit über den künftigen Kurs der Finanzpolitik. Ich habe den Eindruck, dass die Finanzpolitik strukturell expansiver werden wird. Wenn dies der Fall ist, würde das eine etwas schnellere Normalisierung der Geldpolitik rechtfertigen.

Die US-Notenbank Fed hat nun trotz des Kriegs erstmals seit 2018 ihren Leitzins erhöht und allein für 2022 sechs weitere Anhebungen avisiert. Das hat Ängste geschürt, dass die Fed überziehen und die US-Wirtschaft abwürgen könnte. Wie groß ist diese Gefahr?

Es besteht immer ein Risiko, aber alle Indikatoren weisen in dieselbe Richtung: eine Überhitzung der Wirtschaft. Um die Inflation einzudämmen, wird eine energischere geldpolitische Straffung erforderlich sein. Das wird nicht nur höhere Zinssätze als derzeit erwartet bedeuten, sondern auch eine Verringerung der Fed-Bilanz, eine „quantitative Straffung“. Die Finanzmärkte sind darauf nur unzureichend vorbereitet.

Die Fed hat der hohen Inflation lange tatenlos zugeschaut, auch als Folge der neuen geldpolitischen Strategie mit einer stärkeren Toleranz gegenüber Inflationsraten oberhalb des 2-Prozent-Ziels. Hat sich die neue Strategie schon als Fehler erwiesen?

Die „neue Strategie“ wurde entwickelt, um einer anhaltend zu niedrigen Inflation zu entgehen. Ich war nie ein großer Fan davon. Ich denke, dass die Fed die Auswirkungen der sehr expansiven Finanzpolitik und der starken Erholung des Arbeitsmarktes unterschätzt hat. Die „neue Strategie“, eine etwas höhere Inflation für einige Zeit zu tolerieren, war für eine Situation mit außergewöhnlichen fiskalischen Impulsen und störenden Angebotsengpässen nicht geeignet.

Die Bank of England hat jetzt sogar zum dritten Mal in Folge ihren Leitzins erhöht. Geht sie im Kampf gegen die hohe Inflation zu weit, wie mancher befürchtet?

Das Vereinigte Königreich hat eine Vergangenheit mit hoher und schwankender Inflation. Bei schwach verankerten Inflationserwartungen hat die Zentralbank nicht viel Spielraum, um durch negative Angebotsschocks „hindurchzuschauen“. Das Risiko, dass sich die angebotsbedingte Inflation auf die Löhne und Preise auswirkt, ist recht hoch. Die Bank of England hat ihre Politik zu Recht gestrafft, aber der Ukraine-Krieg hat die Stagflationsrisiken er­heblich erhöht. Das erklärt, warum die Zentralbank nach der jüngsten Zinserhöhung in ihrer Mitteilung vorsichtiger über den künftigen geldpolitischen Kurs gesprochen hat.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat einen schnelleren Ausstieg aus ihren Anleihekäufen avisiert – was die Tür für Zinserhöhungen noch 2022 öffnet. War das im aktuellen Umfeld richtig oder übereilt?

Die EZB hat einen vorsichtigen Prozess der Normalisierung in einer Wirtschaft eingeleitet, die sich noch nicht vollständig von der Gesundheitskrise erholt hat. Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass Corona immer noch existent ist und zu anhaltenden Unterbrechungen der Lieferketten führt, wie die Situation in China zeigt. Der Krieg in der Ukraine hat einen neuen exogenen Schock ausgelöst. Seine möglichen Folgen für die Wirtschaftstätigkeit sollten nicht unterschätzt werden. Die EZB bewegt sich auf dünnem Eis. Deshalb beharrt sie auf Optionalität, Flexibilität und Gradualismus. Das Signal eines schnelleren Ausstiegs aus den Ankäufen von Vermögenswerten im zweiten Quartal war vielleicht nicht die beste Entscheidung, auch wenn ich mit der eingeschlagenen Richtung völlig einverstanden bin. Bisher sind die langfristigen Inflationserwartungen nicht allzu stark angestiegen, so dass die EZB über einen gewissen Handlungsspielraum verfügt. Es ist wahrscheinlich, dass eine vorsichtige Normalisierung der Geldpolitik zusammen mit einer expansiveren Finanzpolitik fortgesetzt wird.

Sollte es im Zuge der EZB-Normalisierung wieder zu steigenden Renditedifferenzen bei Euro-Staatsanleihen kommen – sollte die EZB dann mit neuen Liquiditätshilfen gegensteuern?

EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat klargemacht, dass die EZB bei Bedarf neue Instrumente entwickeln und einsetzen kann, um die geld­politische Transmission auf dem Weg der Normalisierung der Politik zu gewährleisten. Dies ist ein sehr heikles Thema in der Eurozone. Die Zentralbank kann nicht ignorieren, dass unter bestimmten Umständen schwe­re Marktverwerfungen die Währungsunion destabilisieren und die Preisstabilität gefährden können. Gleichzeitig kann sie aber auch nicht gegen Marktentwicklungen vorgehen, die von den Fundamentaldaten bestimmt werden. Die Beurteilung der Bedingungen, unter denen die Zentralbank intervenieren würde, liegt im Rahmen ihres Preisstabilitätsmandats im Ermessen des EZB-Rats. Es besteht die Gefahr, dass das von den Märkten und Politikern als Pauschalgarantie angesehen wird. Dies ist sicherlich keine optimale Situation. Es liegt auf der Hand, dass der europäische Rahmen für die Tragfähigkeit der Schulden gestärkt werden muss.

Mancher Beobachter argumentiert, dass Europas Widerstand gegen den autoritären Aggressor Wladimir Putin nicht am Geld scheitern dürfe und dass deshalb auch die EZB klarmachen sollte, dass sie im Notfall die Zahlungsfähigkeit der Euro-Staaten gewährleistet. Das Vermeiden einer neuen Schuldenkrise sei im Zweifelsfall jetzt wichtiger als das 2-Prozent-Inflationsziel der EZB. Was sagen Sie dazu?

Die Geschichte hat gezeigt, dass in Kriegen die monetäre Dominanz in der Regel der fiskalischen Dominanz Platz macht. Wir befinden uns nicht in einer solchen Situation, aber wir nähern uns ihr an. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann die EZB natürlich nicht zulassen, dass es zu Marktverwerfungen kommt. Ein schrittweiser Normalisierungsprozess hilft, dieses Risiko einzudämmen. Ich glaube aber nicht, dass dies ein Zeichen dafür ist, dass die EZB das Inflationsproblem zu zaghaft angeht. Es ist eher ein Ausdruck der großen Unsicherheiten.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat unlängst dafür plädiert zu untersuchen, ob eine Finanzierung von Staatsdefizi­­ten durch die Notenbank nicht in manchen Situationen Sinn machen kann – womit er an einem geldpolitischen Tabu rüttelt. Braucht es einen Neuansatz im Verhältnis von Geld- und Fiskalpolitik?

Akademische Arbeiten haben Situationen erörtert, in denen eine monetäre Finanzierung gerechtfertigt sein kann. Sie gehen in der Regel nicht auf politökonomische Überlegungen ein und gehen davon aus, dass die Zentralbank immer in der Lage sein wird, auszusteigen, bevor die Inflation zu einem Problem wird – eine ziemlich starke Hypothese. Die Skepsis gegenüber der monetären Finanzierung schließt nicht aus, dass eine Zusammenarbeit zwischen den Währungs- und den Finanzbehörden notwendig ist, insbesondere im Falle von schweren Schocks. In der gegenwärtigen Situation erleichtern finanzpolitische Maßnahmen zur Bewältigung struktureller Probleme auf der Angebotsseite wie dem Energieschock die Aufgabe der Zentralbank, auch wenn sie kostspielig sind. Es ist jedoch wichtig, dass sich die Zentralbank weiterhin auf ihr Mandat der Preisstabilität konzentriert.

Wegen des Ukraine-Kriegs sind auch gegen die russische Zentralbank beispiellose Sanktionen ergriffen worden, insbesondere sind die Devisenreserven Russlands im Ausland eingefroren worden. Was sind die langfristigen Folgen eines solchen Schritts, vor allem auch auf die stets sehr enge Kooperation der Zentralbanken weltweit?

Die Sanktionen haben den Dollar weiter „waffenfähig“ gemacht. Andere wichtige Reservewährungsländer sind nun den USA gefolgt. Die längerfristigen Folgen für die gesamte Infrastruktur des globalen Zahlungssystems werden tiefgreifend sein. Alternative Systeme werden an Bedeutung gewinnen, insbesondere durch den Einsatz neuer Technologien. Dies wird die Rolle des US-Dollars in Frage stellen. In einem solch schwierigen geopolitischen Umfeld ist es für Europa weiterhin wichtig, seine Bemühungen um die Entwicklung der internationalen Rolle des Euro fortzusetzen.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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