„Die EZB steht unter Fiskaldominanz“
Mark Schrörs.
Herr Professor Stark, die Euro-Staaten haben in der Coronakrise die Wirtschaft mit beispiellosen Hilfspaketen von tausenden Milliarden Euro unterstützt und ihre Verschuldung enorm erhöht. War das angemessen?
Die Regierungen haben richtig gehandelt, um den Absturz der Volkswirtschaften zu vermeiden. Aber es wurden auch Steuergelder verschleudert, weil sie nicht zielgenau eingesetzt wurden oder – wie die temporäre Mehrwertsteuersenkung in Deutschland – ökonomisch völlig unsinnig waren. Und nicht alle zusätzlichen Schulden sind coronabedingt. Die Aussetzung der Haushaltsregeln führte nämlich dazu, auch andere nicht prioritäre Ausgaben, die nichts mit der Pandemie zu tun haben, mit mehr Schulden zu finanzieren.
Vor allem Frankreich und Italien pochen jetzt auf neue EU-Haushaltsregeln und nehmen dabei sowohl die Maastricht-Kriterien als auch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ins Visier. Sind die Kriterien und der Pakt überholt und die Regeln zu starr?
Wir brauchen strikte Regeln, sonst droht die Währungsunion auseinanderzubrechen oder es werden gigantische Finanztransfers nötig. Was auf dem Papier heute starr aussieht, erlaubt in Wirklichkeit hohe Flexibilität. Die Suspendierung der Regeln infolge Corona ermutigt jetzt viele, sie grundsätzlich in Frage zu stellen, auch in Deutschland. Unbestritten ist: Die europäischen Regeln sind heute viel zu komplex, intransparent und unwirksam. Wir brauchen einfache, glaubwürdige, transparente und durchsetzbare Regeln.
Angesichts der rekordniedrigen Zinsen argumentieren vor allem angelsächsische Ökonomen, dass staatliche Schulden gar kein Problem mehr seien. Müssen deutsche Ordnungsökonomen umdenken?
Nein! Diese Argumentation basiert auf der trügerischen Prämisse, dass Inflation und Zinsen noch lange sehr niedrig bleiben. Richtig an dem Argument ist nur, dass die bisher problemlose Finanzierung explodierender Staatsschulden durch die Anleihenaufkäufe der Zentralbanken möglich war. Konjunkturell bedingt ziehen Inflation und die längerfristigen Zinsen bereits an. Hinzu kommt mittelfristig die Umkehr von Faktoren, die bisher disinflationär wirkten, wie etwa Demografie und Globalisierung.
Was passiert, wenn die Europäische Zentralbank eines Tages die Zinsen erhöht – oder ist die EZB längst in einem Regime der fiskalischen Dominanz gefangen?
Die EZB will die Finanzierungsbedingungen hoch verschuldeter Staaten günstig halten, indem sie die Zinsstrukturkurve kontrolliert. Sie antizipiert mit ihrem Handeln die möglichen Folgen steigender Zinsen. Würde sie den „Stecker ziehen“, hätte das den Kollaps vieler Staaten und der Finanzmärkte zur Folge. Die EZB kann also nicht mehr unabhängig handeln und würde im Zweifelsfall eine höhere Inflation tolerieren. Ja, die EZB steht unter Fiskaldominanz!
Für den Corona-Wiederaufbaufonds darf sich die EU-Kommission erstmals in großem Stil verschulden und Teile der Hilfen werden als Zuschüsse gewährt. Ist die EU damit endgültig auf dem Weg zur Haftungs- und Transferunion?
Die EU-Kompetenz ist hier sehr fragwürdig. Zunächst hat der sogenannte Wiederaufbaufonds nichts mit Corona zu tun. Es geht schwerpunktmäßig um ganz andere Politikbereiche, die zwar wichtig sind, aber in nationaler Kompetenz liegen. Dass es um gemeinschaftliche Haftung und Transfers geht, zeigen auch die schwache Konditionalität der Mittelvergabe und die begrenzten Kapazitäten in vielen südlichen Ländern, die Mittel effektiv zu absorbieren. Das ist ein entscheidender Schritt in die Haftungs- und Transferunion.
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