„Die WTO ist ineffektiver geworden“
„Die WTO ist ineffektiver geworden“
Herr Robertsen, die Wirtschaft der Eurozone ist im dritten Quartal geschrumpft und könnte dies auch im vierten Quartal tun. Erwarten Sie für 2024 eine Erholung oder droht eine längere Rezession?
Eine Rezession wird es wohl nicht geben. Wir erwarten allerdings auch keine wirkliche Erholung. Das Wirtschaftswachstum dürfte schwach ausfallen. Wir haben unsere Prognose von einem Wachstum von 0,8% auf 0,5 bis 0,6% gesenkt. Die Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte ist ins Stocken geraten, und die Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben ihre volle Wirkung auf die Realwirtschaft wohl noch nicht entfaltet.
Weshalb ist die Konjunktur in Europa zuletzt deutlich schwächer gewesen als in den USA?
Zum einen haben die USA über höhere fiskalische Ausgaben den privaten Konsum deutlich stimuliert. Das hat es so in der Eurozone nicht gegeben. Zum anderen sind die Vereinigten Staaten deutlich weniger von Exporten und den wirtschaftlichen Beziehungen zu China abhängig als Europa.
Ist es da für Europa eine schlechte Nachricht, dass nicht nur die politischen Beziehungen zu China angespannt sind, sondern auch die Wirtschaft dort nicht rund läuft?
Ja, dass der Konsum in einem Schlüsselmarkt für Europa schwach ausfällt, ist für den Exportsektor ein Problem. Zudem könnte dies zu einer Entwicklung führen, die Europa vor neue Herausforderungen stellt.
Welche ist das?
China ist gerade dabei, sich von einem Schwellenland zu einer erwachsenen Volkswirtschaft zu entwickeln. Deshalb werden für das Land der heimische Konsum und der Export wichtiger. Um diese Bereiche anzukurbeln, könnte die Regierung über Subventionen Preise senken. China ist historisch betrachtet gut dabei, Produkte zu deutlich niedrigeren Preisen zu verkaufen. Das sehen wir ja derzeit beispielsweise bei Elektroautos – und könnte bald auch auf Chemieprodukte und Maschinen zutreffen.
Das trifft die deutsche Automobilindustrie, die für die Wirtschaft Deutschlands eine wichtige Rolle spielt. Die Konjunktur hierzulande läuft insgesamt schwach, es droht eine Rezession in 2024. Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas, wie es manchmal heißt?
Das ist eine gute Schlagzeile. Deswegen benutzen es manche Medien oder Ökonomen gerne. Sie trifft aber nicht zu, weil die Lage in anderen Ländern ähnlich ist. Europa läuft insgesamt Gefahr, aufgrund der schwachen Nachfrage und der erhöhten Preise für grundlegende Konsumgüter wie Energie einen längeren wirtschaftlichen Abschwung zu erleiden. Es konnte in der Vergangenheit auf China als Verbraucher zählen. Aber jetzt müssen sich alle großen Volkswirtschaften Europas mit der Tatsache auseinandersetzen, dass China nicht nur ein Verbraucher europäischer Produkte, sondern auch ein Konkurrent in diesen Sektoren ist. Allerdings bestehen in Deutschland Risiken, die strukturell werden könnten. Die hohe Bürokratie verhindert dynamische Entscheidungen. Diese sind aber in einer sich verändernden Welt besonders wichtig.
Eine dieser aktuellen Veränderungen ist die zunehmende Politisierung im Welthandel, die zu ersten Anzeichen einer Fragmentierung, also Zersplitterung, führt. Was sind die Gründe für die Entwicklung?
Dafür gibt es eine Reihe von Ursachen. Durch das starke Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit ist China inzwischen ein Konkurrent des Westens geworden, was zu Spannungen führt. Dann sind die USA unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump deutlich protektionistischer geworden, was Joe Biden im Wesentlichen fortgeführt hat. Zudem haben die gestörten Lieferketten während der Pandemie den Staaten vor Augen geführt, dass es riskant ist, zu sehr von einzelnen Ländern abhängig zu sein.
Die Diversifikation von Lieferketten verringert zwar die Abhängigkeit, führt aber auch zu einer höheren Inflation, weil die umstrukturierte Produktion weniger effizient oder teurer ist als die alte. Wie hoch ist dieser Effekt Ihrer Einschätzung nach?
Ich glaube nicht, dass man pauschal sagen kann, dass die Preise dadurch höher werden. Für manche Branchen trifft das sicherlich zu, für andere aber eben nicht.
Haben Sie Beispiele dafür?
Halbleiter, die in den USA oder Europa statt in Taiwan produziert werden, sind teurer. Dies liegt vor allem daran, dass die Arbeitskosten in Taiwan niedriger sind und Taiwans Hersteller erhebliche Größenvorteile bei der Produktion erzielt haben. Die globalen Lebensmittelpreise könnten wegen Unterbrechungen in Lieferketten durch geopolitische Spannungen in Zukunft steigen. In der Automobilindustrie erwarte ich hingegen sinkende Preise aufgrund eines deutlichen Ausbaus der globalen Kapazitäten.
Sie haben Donald Trump vorhin bereits erwähnt. Welche Auswirkungen hätte eine Wiederwahl Trumps im kommenden Jahr zum Präsidenten der Vereinigten Staaten auf die Politisierung der Weltwirtschaft?
Trumps Außenpolitik ist nicht konsistent. Daher würde ein Wahlsieg von ihm global die politischen Unsicherheiten erhöhen. Zudem könnte ein Erfolg Trumps dazu führen, dass die USA den Ton gegenüber Europa verschärfen. Das ist keine Vorhersage, sondern nur ein mögliches Szenario. Aber Trump hat in der Vergangenheit ja beispielsweise schon die Nato als obsolet bezeichnet.
Gerade in einer Welt, in der die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zunehmend knirscht, bräuchte es eine starke Welthandelsorganisation WTO. Doch die verliert an Relevanz, sagen Kritiker. Woran liegt das?
Die WTO ist in den vergangenen Jahren ineffektiver geworden, aber nicht, weil sie was falsch gemacht hätte. In einer bipolaren Welt ist es schwieriger, sich auf gemeinsame Rahmenbedingungen im Welthandel zu einigen, als in der vorherigen unipolaren Welt unter der Führung der USA. Die jetzige Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt wird die WTO weiter paralysieren.
Bräuchte es dann nicht eine Reform der WTO?
Im Prinzip ja. Ich habe allerdings die Befürchtung, dass die Debatte um die Ausgestaltung der Reform sehr lange dauern könnte, vielleicht zehn Jahre. Während dieser Zeit könnte die WTO dann noch ineffektiver sein. Außerdem wird es in einer multipolaren Welt sehr schwer, sich auf eine WTO-Reform zu einigen.
Der Interviewte: Eric Robertsen ist Chefstratege und Leiter des globalen Research der britischen Bank Standard Chartered. Zu seinen Aufgaben zählen unter anderem die Entwicklung und Umsetzung von Anlage- und Handelsstrategien für alle wichtigen Anlageklassen, einschließlich Devisen, Zinsen und Rohstoffe. Vor seiner Zeit bei Standard Chartered arbeitete er für Millennium Capital Partners in London und die Deutsche Bank.
Im Interview: Eric Robertsen
Chefstratege von Standard Chartered warnt vor strukturellen Risiken für die deutsche Wirtschaft und den Welthandel
China durchlebt schwierige wirtschaftliche Zeiten und befindet sich mitten in einer Transformation. Warum das gerade für Deutschland und Europa insgesamt schlechte Nachrichten sind, und wie sich Strukturen im Welthandel verändern, erklärt Eric Robertsen, Chefstratege von Standard Chartered, im Interview.
Das Interview führte Martin Pirkl.