„Jede Verzögerung einer Zinssenkung ist jetzt ein geldpolitischer Fehler“
Herr Dullien, was ist aus Ihrer Sicht die überraschendste Nachricht, die von der geldpolitischen Sitzung der EZB ausging?
Ich war überrascht, wie stark einige aktuelle und ehemalige Ratsmitglieder signalisiert haben, dass es noch eine Zeit dauern würde, bevor man über Zinssenkungen auch nur ernsthaft spricht. In den vergangenen Monaten hat sich die Konjunktur schlechter entwickelt als von den Notenbanken erwartet und die Inflation ist stärker gefallen. Da wäre eigentlich eine andere Reaktion angebracht.
Für wann rechnen Sie mit einer ersten Zinssenkung der EZB?
Im Frühsommer 2024. Wenn deutlich wird, dass die von vielen Prognostikern erwartete schnelle und relativ kräftige Erholung der Euro-Wirtschaft ausbleibt und die Inflation zügig in Richtung Zwei-Prozent-Ziel fällt.
Wie hoch ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass die EZB zu spät die Zinsen senkt?
Die letzte Zinserhöhung der EZB war bereits zu viel. Von daher ist jede Verzögerung einer Zinssenkung jetzt ein geldpolitischer Fehler. Je später die EZB senkt, desto größer wird der Schaden sein.
Der Interviewte: Sebastian Dullien ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Seit Oktober 2007 ist er außerdem Professor für Allgemeine Volkswirtschaftslehre, insb. internationale Wirtschaft, an der HTW Berlin.
Wie wird sich die Euro-Inflation 2024 entwickeln?
Die Euro-Inflation wird im Jahresverlauf deutlich und nach dem ersten Quartal kontinuierlich fallen und am Jahresende 2024 in der Nähe von 2% liegen.
Was ist derzeit das größte Aufwärtsrisiko für die Inflation?
Eine neue Zuspitzung der Energiekrise und ein erneuter Anstieg der Energiepreise, insbesondere des Preises für Erdgas.
Kann die Eurozone eine Rezession in diesem Jahr vermeiden?
Wir rechnen derzeit damit, dass die Eurozone als ganzes 2024 einer Rezession knapp entgeht und das Bruttoinlandsprodukt ganz knapp zulegt. Allerdings ist auch klar: Das Wachstum bleibt blutleer, die Arbeitslosigkeit dürfte steigen und die Produktionslücke größer werden.
Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ein?
Wir rechnen für Deutschland für das laufende Jahr mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,3%. Einen spürbaren Beitrag zu der Wachstumsschwäche leistet dabei die Finanzpolitik, die mitten in der Konjunkturkrise Ausgaben kürzt und Abgaben erhöht, was das Wachstum bremst.
Das Interview führte Martin Pirkl
Die weiteren Umfrageteilnehmer sind: Michael Hüther, Fritzi Köhler-Geib, Jörg Krämer, Christoph M. Schmidt und Konstantin Veit.