Erdbeben bremst türkische Notenbank aus
mpi Frankfurt
Die türkische Zentralbank TCMB senkt den Leitzins nach dem verheerenden Erdbeben Anfang des Monats nicht so stark wie erwartet. Wie die Notenbank am Donnerstag mitteilte, schraubte sie den Leitzins um 50 Basispunkte auf nun 8,5% nach unten. Viele Beobachter hatte mit einer stärkeren Zinssenkung um 100 Basispunkte gerechnet. Doch die TCMB verwies auf die durch das Erdbeben erhöhte Warennachfrage und das geringere Angebot, die einen kleineren Zinsschritt erforderlich gemacht hätten. Während die meisten Zentralbanken der Welt derzeit im Kampf gegen die hohe Inflation ihre Geldpolitik straffen, geht die Türkei einen anderen Weg – und das, obwohl die Inflation im Januar im Vergleich zum Vorjahresmonat offiziell bei 57,7% lag, einem der höchsten Werte weltweit. Experten der Inflationsforschergruppe ENAG zweifeln diese Zahl an und gehen von einer mehr als doppelt so hohen Teuerungsrate aus.
Die türkische Zentralbank begründete ihre nun verkündete Zinssenkung mit der Sorge vor einer Rezession im Land und einem möglichen Abschwung auf dem Arbeitsmarkt. Die TCMB hatte den Leitzins ab März 2021 deutlich gesenkt, ehe sie angesichts der stark schwächelnden türkischen Lira eine Pause einlegte und zuletzt zweimal in Folge von einer weiteren Zinssenkung absah.
Die Notenbanker sehen angesichts der enormen Zerstörung durch das Erdbeben in der Türkei und Syrien ein erhöhtes Risiko eines wirtschaftlichen Abschwungs. „Es ist sogar noch wichtiger geworden, dass die finanziellen Rahmenbedingungen die Wirtschaft unterstützen, um die Wachstumsdynamik der Industrieproduktion und die positive Beschäftigungsentwicklung nach dem Erdbeben zu erhalten“, schreibt die Zentralbank in einer Mitteilung zum Zinsentscheid. Fast 50000 Menschen verloren durch die Naturkatastrophe ihr Leben, über 100000 Gebäude wurden zerstört oder beschädigt. Die türkischen Notenbanker gehen davon aus, dass zumindest die wirtschaftlichen Auswirkungen des Erdbebens nur von kurzer Dauer sind. Die genauen Auswirkungen der Naturkatastrophe auf Produktion, Konsum und Beschäftigung im ersten Halbjahr 2023 werde man jedoch umfassend evaluieren.
Geldpolitik für Stimmenfang
Die türkische Zentralbank spielt auch im laufenden Wahlkampf eine Rolle. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte in der Vergangenheit wiederholt Druck auf die TCMB ausgeübt, eine extrem lockere Geldpolitik zu fahren. Der Präsident der Notenbank, Sahap Kavcioglu, ist ein früherer Abgeordneter der Regierungspartei AKP, deren Parteivorsitzender Erdogan ist.
Erdogan will mit einem robusten Wirtschaftswachstum Wählerstimmen für sich gewinnen. Die schwache Lira kurbelt dabei den wichtigen Tourismussektor an. Allerdings wird die hohe Inflation für die Bevölkerung immer mehr zur Belastung. So sinken Erdogans Umfragewerte vor der im Mai geplanten Präsidentschaftswahl und er geht nicht als klarer Favorit ins Rennen. Das Meinungsforschungsinstitut „Avrasya Arastirma“ sagt ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogans Partei AKP und der sozialdemokratischen CHP voraus.
Vor diesem Hintergrund könnte das Erdbeben große politische Auswirkungen haben. Viele Betroffene fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen und warten weiter auf Hilfen. So kam es unter anderem im Online-Forum „Eksi Sözlük“ zu Kritik am staatlichen Krisenmanagement. An diesem Mittwoch sperrten die Behörden dann den Zugang zur Plattform ohne Angabe von Gründen. Auch das Baumanagement der Regierung steht in der Kritik. Die Bausünden, die vom Staat geduldet und zum Teil sogar genehmigt worden waren, gelten als einer der Gründe für die extrem hohe Zahl an Toten in der Türkei.
Gelingt es Erdogan nicht, in den kommenden Wochen im Krisenmanagement eine bessere Figur zu machen, könnte das Erdbeben politische Auswirkungen haben, die weit länger andauern als die wirtschaftlichen, die die türkische Zentralbank derzeit im Blick behält.