Peter Praet

„Es ist wichtig, dass der EZB-Rat Entschlossenheit zeigt“

Vor einer Woche hat die EZB für Juli die Zinswende avisiert. Am Mittwoch nun kam der EZB-Rat ad hoc zu einer Krisensitzung zusammen – wegen des Ausverkaufs bei Euro-Staatsanleihen. Ex-EZB-Chefvolkswirt Peter Praet ordnet das im Interview ein.

„Es ist wichtig, dass der EZB-Rat Entschlossenheit zeigt“

Börsen-Zeitung, 17.6.2022

Herr Praet, der EZB-Rat will im Juli zum ersten Mal seit elf Jahren die Leitzinsen anheben und er hat auch für die Zeit danach zum Teil deutliche Zinserhöhungen angekündigt – eine ziemliche Kehrtwende gegenüber dem eher vorsichtigen Kurs der vergangenen Monate. Hat Sie die jüngste Entscheidung überrascht?

Was mich und auch die Märkte überrascht hat, war der im Vergleich zu den jüngsten Mitteilungen etwas ag­gressivere Ton. In gewisser Weise war das angesichts der Intensität und der Ausbreitung des Inflationsdrucks angemessen. Meiner Meinung nach unterschätzt der EZB-Rat jedoch die Abwärtsrisiken für das Wachstum. Die Aussage, dass „das Wachstum solide bleibt“, erscheint mir in einem derart unsicheren Um­feld, in dem das verfügbare Einkommen einen starken Einbruch erlitten hat, seltsam. Die Wahrscheinlichkeit einer Rezession hat sich deutlich erhöht.

Nach einer Anhebung um 25 Basispunkte im Juli könnten es im September 50 Punkte oder sogar mehr sein. Ist das also zu aggressiv?

Die EZB bewegt sich zunehmend in einem sehr ungemütlichen Umfeld mit Stagflationsdruck: mit Abwärtsrisiken für das Wachstum und anhaltendem Inflationsdruck. Sie musste handeln, aber die Kalibrierung der Maßnahmen ist recht heikel. Tatsache ist, dass wir eine erhebliche Verschärfung der finanziellen Bedingungen erlebt haben, die sich nur schwer mit früheren Mitteilungen über eine allmähliche Normalisierung der Geldpolitik vereinbaren lässt. Was fehlt, ist eine klare Erklärung, wie der erwartete Zinspfad die Inflation un­ter Kontrolle bringen wird. Die Inflation ist das Ergebnis eines Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage. Das Angebot wurde von einer Reihe von Schocks getroffen, auf die die Geldpolitik wenig Einfluss hat. Die Gesamtnachfrage steht be­reits unter Druck, da die Realeinkommen gesunken sind und das Verbrauchervertrauen deutlich nachgelassen hat. Die jüngste Verschärfung der finanziellen Bedingungen wird die Gesamtnachfrage weiter belasten.

Also wäre mehr Vorsicht besser?

Meiner Meinung nach sollte das die politischen Entscheidungsträger zur Vorsicht mahnen. Die vorherrschende Meinung scheint aber eher „hawkish“ zu sein, aber sie scheut davor zurück, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass ihrer Meinung nach ei­n weiteres Absenken der Gesamtnachfrage erforderlich sein wird, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen, und dass dies nicht schmerzlos sein wird. Das vorausgeschickt, erkenne ich voll und ganz an, dass dies ein schwieriger Balanceakt ist.

Wo sehen Sie derzeit den neutralen Zinssatz in der Eurozone? Reicht es aus, den Leitzins auf dieses Niveau anzuheben, oder braucht es eine restriktive Geldpolitik, um die Inflationsdynamik zu brechen?

Ich habe das Konzept des neutralen Zinssatzes nie als sehr nützlich für die Praxis angesehen. Es besteht zu viel Unsicherheit über seine Höhe. Die Geldpolitik wird über die Finanzierungsbedingungen auf die Wirtschaft übertragen, die ihrerseits die Gesamtnachfrage und schließlich die Inflation beeinflussen. Änderungen der Zinssätze sind nur ein Aspekt, der den geldpolitischen Kurs bestimmt. Was zählt, ist die Gesamtheit der Signale, die die Zentralbank aussendet und die sich letztlich auf die Finanzierungsbedingungen auswirken. Im vorliegenden Fall hat die Kommunikation der EZB zu einer deutlichen Verschärfung der Finanzierungsbedingungen geführt. Der EZB-Rat wird in den kommenden Monaten auf der Grundlage der eingehenden Informationen beurteilen müssen, inwieweit dies angemessen ist oder nicht. Es handelt sich also um eine Art iterativen Prozess, bei dem die Zentralbank aus den Auswirkungen ihrer Entscheidungen lernt.

Die Ankündigungen der EZB haben einen Ausverkauf bei Euro-Anleihen ausgelöst. Viele Beobachter warnen bereits vor einer neuen Euro-Schuldenkrise. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein?

Eine Straffung der Geldpolitik wirkt sich zwangsläufig stärker auf die Kreditbedingungen in Ländern mit schwachen Fundamentaldaten aus, insbesondere mit schwachen öffentlichen Finanzen. Die EZB muss dies bei der Kalibrierung ihrer Politik in dem Maße berücksichtigen, wie die Finanzierungsbedingungen für den Euroraum als Ganzes betroffen sind. Der Richtungswechsel in der Politik, den wir derzeit erleben, ist im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt radikal. Die Beendigung der Ankäufe von Vermögenswerten in einer Zeit großer Unsicherheit hat eindeutig zu starken Marktreaktionen geführt, die eine überproportionale Verschärfung der Finanzierungsbedingungen in einem wichtigen Teil der Union bewirkt haben. Auch wenn ich die Marktreaktionen noch nicht als „un­geordnet“ qualifizieren würde, sind sie ganz sicher ein Warnschuss.

Am Mittwoch hat der EZB-Rat ad hoc eine Krisensitzung abgehalten, um die Marktlage zu erörtern, und er hat seine Zusage bekräftigt, die PEPP-Reinvestitionen zu nutzen, um das Funktionieren des geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu erhalten, und er hat die Arbeit an einem neuen „Antifragmentierungsinstrument“ in­tensiviert. Braucht es ein solches neues Instrument?

Was wir zunächst brauchen, ist eine weitere Stärkung der institutionellen Architektur des Euroraums. Das bedeutet eine stärkere Risikoteilung des privaten Sektors über die Kapitalmarktunion und die Bankenunion sowie eine größere fiskalische Kapazität des Euroraums mit klar definierten Bedingungen, ganz im Sinne des Next Generation EU. Die EZB darf nicht zum Rettungsanker für die institutionellen Schwächen des Euroraums werden. Ungeachtet dessen muss die EZB im heutigen Kontext einer radikalen Änderung des geldpolitischen Kurses sicherstellen, dass der Prozess geordnet verläuft. Eine erfolgreiche Normalisierung der Geldpolitik sollte nicht zu einer nichtlinearen destabilisierenden Dynamik führen, die die EZB zu einem Rückzieher veranlassen könnte. Gleichzeitig kann die EZB nicht unter allen Umständen intervenieren. Die Entwicklung neuer Interventionsinstrumente ist an sich nicht allzu kompliziert. Die Schwierigkeit be­steht jedoch darin, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen ein solches Instrument eingesetzt werden soll. Ein gewisses Maß an Unklarheit ist unvermeidlich, aber in dieser Hinsicht ist es wichtig, dass der EZB-Rat mit einer Stimme spricht und Entschlossenheit zeigt, das Problem anzugehen. Ich denke, dass eine Einigung auf allgemeine Leitlinien dazu, wann und wie mit der Fragmentierung umgegangen werden soll, sinnvoll wäre.

Viele EZB-Zentralbanker sprechen ungewöhnlich offen über die Schwäche des Euro als Inflationsproblem – weil sie zu steigenden Importpreisen führt. Welche Rolle sollte das für die EZB spielen?

Ich persönlich war immer vorsichtig mit der Kommunikation über Wechselkurse. Der schwache Euro gegenüber dem Dollar ist sicher ein Faktor, der bei geldpolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden muss, aber er ist nur ein Faktor unter anderen. Was wir auf den Devisenmärkten sehen, spiegelt im Großen und Ganzen die Fundamentaldaten wi­der. In den kommenden Monaten werden wir einen klareren Überblick über die Entwicklung der US-Wirtschaft haben. Mein Eindruck ist, dass eine weiche Landung recht unwahrscheinlich ist.

Die EZB hat die Inflationsdynamik kolossal unterschätzt. Welche Rolle hat die neue Strategie mit einer größeren Toleranz für Inflationsraten über 2 % gespielt? Welche Lehren muss die EZB ziehen?

 

Es ist nicht nur die EZB, die das Problem unterschätzt hat. Und wir könnten uns bei den künftigen Inflationsaussichten erneut irren! Ich bin nach wie vor der Meinung, dass sich die Situation in Europa von der in den USA unterscheidet, wo der Inflationsschub eher auf einen Nachfrageüberhang zurückzuführen ist. In den USA führte die Überprüfung der Fed-Strategie zu einer Politik des „flexiblen durchschnittlichen Inflationsziels“, die unter bestimmten Umständen eine gewisse Zeit lang ein Überschießen der Inflation empfiehlt. Dies mag eine Rolle bei der verzögerten Reaktion der Fed auf den Inflationsdruck gespielt haben. Die EZB war vorsichtiger, indem sie dieses Konzept als solches nicht unterstützt hat. Insgesamt bewerte ich das Ergebnis der EZB-Strategieüberprüfung weiterhin sehr positiv. Es wurde eine Reihe von Problemen angegangen, wie die Einbeziehung von Überlegungen zur Finanzstabilität in die geldpolitischen Überlegungen.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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