EZB beschließt wegen Wachstumssorgen weitere Zinssenkung
Angesichts unerfreulicher Perspektiven für die Euro-Wirtschaft und Fortschritten beim Rückgang der Inflationsrate senkt die EZB zum zweiten Mal in Folge die Leitzinsen um 25 Basispunkte. Der für die Geldpolitik wichtige Einlagensatz fällt damit kommende Woche auf 3,25%. Die Beschlüsse auf der Zinssitzung seien einstimmig gefallen, sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf der Pressekonferenz nach der Ratssitzung. Man habe Diskussionen und Debatten geführt, „aber am Ende des Tages gab es eine einstimmige Entscheidung.“
Auch nach dieser Zinssenkung befindet sich der Einlagensatz auf einem Niveau, das nach einhelliger Meinung der Notenbanker restriktiv wirkt – also die wirtschaftlichen Aktivitäten abbremst.
Nicht im vorab festlegen
Auf die künftige Zinsentwicklung wollte sich Lagarde nicht konkret festlegen. „Wir werden weiterhin einen datenabhängigen Ansatz verfolgen“, sagte die EZB-Chefin. Man werde „von Sitzung zu Sitzung“ entscheiden. „Wir legen uns nicht im Voraus auf einen bestimmten Zinspfad fest“, fügte sie hinzu. „Wir sind in jedem Fall bereit, alle unsere Instrumente im Rahmen unseres Mandats anzupassen.“ Es müsse sichergestellt werden, dass die Inflation wieder den mittelfristigen Zielwert von zwei Prozent erreiche.
„Die aktuellen Daten zur Inflation zeigen, dass der Disinflationsprozess gut voranschreitet“, heißt es in der Stellungnahme der EZB zum Zinsentscheid. „Die Inflationsaussichten werden zudem durch aktuelle Konjunkturindikatoren beeinflusst, die schwächer ausgefallen sind als erwartet.“
Die fehlenden Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung in den vergangenen Wochen waren also offenbar ausschlaggebend dafür, dass sich der EZB-Rat dazu entschlossen hat, die Leitzinsen abermals zu senken. Mitte September hatte eine Mehrheit der Notenbanker noch mit einer Zinspause bis zur Sitzung im Dezember gerechnet. Bei diesem Treffen wird die EZB neue Projektionen zu Inflation und Wirtschaftswachstum präsentieren. Die Wachstumsprognose für die Eurozone für das laufende Jahr von 0,8% dürfte die Notenbank dann abermals nach unten korrigieren müssen.
Lohnwachstum bleibt ein Thema für die EZB
Eine schwächere Konjunktur bedeutet eine geringere Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Das wiederum reduziert den Inflationsdruck, da Unternehmen bei niedrigerer Nachfrage kleinere Spielräume für Preiserhöhungen haben. Zudem ist es bei schlecht laufenden Geschäften für Arbeitnehmer und Gewerkschaften schwieriger, hohe Lohnforderungen durchzusetzen. Das Lohnwachstum ist derzeit der Haupttreiber der Inflation, vor allem bei Dienstleistungen.
Zuletzt gab es Anzeichen, dass sich das Lohnwachstum etwas abschwächt. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, warnt davor, dass die Zinssenkung der EZB den Lohndruck wieder verstärken könnte. Die EZB „facht damit mittelfristig die Investitionsnachfrage der Unternehmen an und verschärft die Knappheiten am Arbeitsmarkt“, so Krämer. „Das dürfte die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer wieder erhöhen, was zu hohen Lohnabschlüssen und Inflationsraten führen würde.“ Krämer spricht von einer „riskanten Zinssenkung“.
Bei drei ist nicht Schluss
Anders sehen das etwa Ifo-Präsident Clemens Fuest und DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Fuest hält die Zinssenkung für „gut begründet“. Es sei aber richtig, dass sich die EZB wegen möglicher Aufwärtsrisiken bei der Inflation nicht auf weitere Zinssenkungen habe festlegen lassen. Marcel Fratzscher, Präsident des DIW in Berlin, fordert die EZB indes auf, die Zinsen noch schneller und stärker zu senken, als sie das bisher getan hat. Die EZB sei dabei, „ihren Fehler zu korrigieren“, urteilt er. Die Notenbank müsse nun aber ihren Zinssenkungspfad weiter verfolgen.
„Bei drei ist nicht Schluss“, kommentiert auch Bantleon-Kapitalmarktstrategie Harald Preißler. Angesichts des zuversichtlichen Inflationsausblicks und der schwachen Wachstumsperformance habe die EZB gar nicht anders können, als den Restriktionsgrad der Geldpolitik weiter zu lockern. Selbst anerkannte Falken im EZB-Rat, wie die deutschen Vertreter Isabel Schnabel und Joachim Nagel, hätten sich zuletzt deutlich für monetäre Lockerungen ausgesprochen – die sonst üblichen Flügelkämpfe spielten gegenwärtig keine Rolle.
Zweifel an Zinswirkungen
Inwieweit die Zinssenkung der EZB kurzfristig überhaupt Wirkung zeitigen, bezweifeln hingegen einige Ökonomen. Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank, geht davon aus, dass die Kreditkonditionen, etwa bei Hypothekenkrediten kaum noch sinken würden, da sie die Entwicklung bei den Leitzinsen bereits Monate im Voraus vorweggenommen hätten. Und Friedrich Heinemann vom Mannheimer ZEW hält es für bemerkenswert, dass sich aktuell die fallenden Leitzinsen nicht in sinkende Renditen für langfristige Euro-Staatsanleihen übertragen. Dies, so der Finanzwirtschaftler, „könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Märkte nicht an eine inflationsfreie Zukunft glauben“.
Der EZB sitze die „Angst um die wirtschaftliche Entwicklung“ im Nacken, vermutet VP-Bank-Chefvolkswirt Thomas Gitzel. Ursprünglich seien aus der EZB-Wortwahl quartalsweise Zinssenkungen zu entnehmen gewesen. Doch mit der letzten Runde an schwachen Konjunkturmeldungen, hätten die europäischen Währungshüter ihren Plan über den Haufen geworfen.
Die EZB sieht sich auf einem guten Weg, ihr Inflationsziel von 2% in der zweiten Jahreshälfte 2025 nachhaltig zu erreichen. Wenige Stunden vor dem Zinsentscheid verkündete die Statistikbehörde Eurostat, dass die Inflation im September auf 1,7% gefallen ist. In einer Erstschätzung waren die Statistiker noch von 1,8% ausgegangen. Es waren vor allem niedrigere Energiepreise als vor einem Jahr, die die Teuerung gedämpft haben. Da sich dieser Effekt aber ab November umkehren dürfte, wird die Inflation ab Winter mutmaßlich wieder über das Inflationsziel der EZB steigen.
Hohe, aber fallende Kerninflation
Dass der Inflationsdruck höher ist, als es der Blick auf die aktuelle Inflationsrate suggeriert, zeigt die Kerninflation. Hierbei werden die schwankungsanfälligen Lebensmittel- und Energiepreise ausgeklammert, weswegen sie Ökonomen und Notenbankern als besserer Gradmesser für den allgemeinen Inflationstrend gilt. Die Kerninflation lag im September bei 2,6%. Auch hier revidierte Eurostat die Zahl am Donnerstag um 0,1 Prozentpunkte nach unten.
Für den Inflationsausblick gibt es derzeit recht viele Unwägbarkeiten. Sollte die wirtschaftliche Erholung noch länger auf sich warten lassen, könnte die Teuerung schwächer ausfallen als prognostiziert. Unklar ist auch, wie groß der Einfluss des chinesischen Konjunkturpakets auf die Nachfrage der dortigen Unternehmen nach europäischen Produkten sein wird. Eine steigende Nachfrage würde der Euro-Konjunktur einen Wachstumsimpuls geben. Eine weitere Eskalation im Nahen Osten könnte wiederum die Energiepreise und damit auch die Inflation steigen lassen. Bislang war der Einfluss des Krieges im Nahen Osten auf die Inflationsrate der Eurozone jedoch überschaubar.
Zudem könnte der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen die Wirtschaftsdaten in Europa beeinflussen. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump droht im Falle eines Wahlsieges mit Strafzöllen, insbesondere gegenüber China. Doch auch für Europa könnten die Handelsbarrieren zu einem Inflationsschub führen. Mittelfristig könnte die Inflation hingegen in seinem solchen Szenario niedriger ausfallen. Denn der Protektionismus könnte zu einer sinkenden Wirtschaftsleistung – auch in Europa – führen. Dafür hat zuletzt unter anderem Bundesbankpräsident Joachim Nagel gewarnt.