EZB verkündet zehnte Zinserhöhung in Folge
Im Kampf gegen die weiter hartnäckige Inflation im Euroraum hat sich die Europäische Zentralbank (EZB) für eine erneute Erhöhung der Leitzinsen um je 25 Basispunkte entschieden. Der Einlagenzins steigt damit auf 4,0%, wie die EZB am Donnerstag in Frankfurt mitteilte. Nie lag er höher. Der Hauptrefinanzierungssatz klettert auf 4,5% – den höchsten Stand seit Mai 2001. Die Zinserhöhungen seit Juli 2022 summieren sich nun auf 450 Basispunkte und bilden den längsten Zinserhöhungszyklus in der Geschichte der EZB mit zehn Zinserhöhungen in Folge.
Die EZB beobachte zwar einen Rückgang der Inflation, „es wird jedoch nach wie vor erwartet, dass sie zu lange zu hoch bleiben wird“, heißt es in dem Kommuniqué der EZB zum Zinsentscheid. Für 2023 erhöhen die EZB-Volkswirte ihre Inflationsprognose von 5,4% auf 5,6% und für 2024 von 3,0% auf 3,2%. Mit Blick auf 2025 sind sie etwas optimistischer und gehen nun von 2,1% statt 2,2% aus.
Die Konjunkturprognosen fallen für den gesamten Zeitraum 2023 bis 2025 pessimistischer aus. Besonders groß ist die Revision für das kommende Jahr. Die EZB-Volkswirte erwarten nun statt 1,5% nur noch ein Wachstum von 1,0%. Als Begründung für die Revision führt die EZB die Auswirkungen der Zinserhöhungen und den schwachen Außenhandel an.
Die zehnte Zinserhöhung dürfte die letzte in diesem Zyklus gewesen sein. Gleichzeitig betonte die EZB jedoch, dass zeitnah keine Zinssenkungen anstehen dürften. „Auf der Grundlage seiner aktuellen Einschätzung geht der EZB-Rat davon aus, dass die Leitzinsen der EZB ein Niveau erreicht haben, das bei Beibehaltung über einen ausreichend langen Zeitraum einen wesentlichen Beitrag zur rechtzeitigen Rückkehr der Inflation zum Zielwert leisten wird“, heißt es in dem Kommuniqué.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte auf der Pressekonferenz nach dem Zinsentscheid mehrfach, dass sich die Zinsen „so lange wie nötig auf einem ausreichend restriktiven Niveau“ befinden werden, um das mittelfristige Inflationsziel der EZB von 2% zu erreichen. Eine weitere Zinserhöhung schloss Lagarde nicht kategorisch aus. Auch wenn die aktuelle Einschätzung in die Richtung gehe, dass das Zinsplateau erreicht sein könnte, könne die EZB eine weitere Anhebung nicht ausschließen.
„Solide Mehrheit“ im EZB-Rat für Zinserhöhung
Zugleich teilte sie mit, dass einige der Ratsmitglieder lieber eine Zinspause gesehen hätten, es aber nach der Analyse der Inflations- und Konjunkturdaten eine „solide Mehrheit“ im EZB-Rat für die Zinserhöhung gegeben habe.
Für Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank, ist die Nicht-Absage einer weiteren Zinserhöhung ein Mittel Lagardes, die Märkte davon abzuhalten, eine zu lockere Geldpolitik einzupreisen. „Die EZB vollzieht heute noch einen Zinsschritt, in Anbetracht der wirtschaftlichen Risiken wird dies aber die letzte geldpolitische Straffung gewesen sein“, sagte Gitzel. „Dabei ist es aber keineswegs so, dass die EZB dies auch so kommentiert. Vielmehr möchte sie die Märkte in Ungewissheit lassen und bleibt bei ihrem falkenhaften Ton. Die EZB möchte nach wie vor als restriktive Notenbank gelten.“
Auch DekaBank-Chefvolkswirt Ulrich Kater erwartet keine weitere Zinserhöhung bei der kommenden Zinssitzung im Oktober. „Mit diesem Zinsschritt ist jetzt erstmal Pause. Ob noch mehr geldpolitische Straffung notwendig ist, richtet sich danach, ob der Inflationsrückgang im kommenden Jahr anhält oder nicht“, schätzt er die Lage ein. „Zinssenkungen wird es allerdings so schnell nicht geben.“
Schwierige Entscheidung für EZB
Die Entscheidung war mit noch größerer Spannung erwartet worden als sonst ohnehin schon, weil der Ausgang bis zuletzt komplett offen war – was inzwischen für Zentralbanken äußerst ungewöhnlich ist. Hintergrund dafür war das Dilemma, in dem die EZB derzeit steckt: Einerseits hat sich die Inflation seit ihrem Rekordhoch von 10,6% zwar auf 5,3% halbiert. Das liegt aber immer noch deutlich oberhalb des mittelfristigen EZB-Ziels von 2,0%, und auch die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel liegt mit 5,3% nahe ihres Rekordhochs aus dem Frühjahr. Andererseits schwächelt die Euro-Wirtschaft gehörig und die Warnungen vor einer Rezession nehmen zu.
Die Hardliner im EZB-Rat, die „Falken“, hatten eher die weiter zu hohe Inflation und die Risiken für die Teuerung betont. Sie sympathisierten deshalb mit weiteren Zinserhöhungen – auch um die Inflationserwartungen im Zaum zu halten. Die „Tauben“ dagegen betonten eher die Konjunkturschwäche und mahnten zur Vorsicht – zumal Geldpolitik zeitverzögert wirkt und die bisherigen Zinserhöhungen ihre volle Wirkung noch gar nicht entfaltet haben. Zunächst hatten die „Tauben“ den Ton bestimmt, während kurz vor Beginn der Schweigephase vor einer Zinserhöhung die „Falken“ die Märkte gewarnt hatte, die Chance einer Zinserhöhung nicht zu unterschätzen.
Deutsche Top-Ökonomen plädierten für Zinserhöhung
Unmittelbar vor der wegweisenden Zinssitzung der EZB hatten dann führende deutsche Ökonomen zu einer erneuten Zinserhöhung geraten. Sowohl der Wirtschaftsberater von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), Lars Feld, als auch die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, plädierten in einer Umfrage der Börsen-Zeitung für eine Zinsanhebung.
„In den vergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass die Inflation im Euroraum sehr hartnäckig ist. Zugleich haben sich die konjunkturellen Aussichten weiter eingetrübt. Ich könnte daher nachvollziehen, wenn die EZB zunächst eine Zinspause einlegen würde “, sagte Feld in der Umfrage der Börsen-Zeitung, fügte aber hinzu: „Gleichwohl wird sie kaum an einer weiteren Zinserhöhung vorbeikommen. Es wäre besser, diese nicht hinauszuzögern.“ Auch die Wirtschaftsweise Schnitzer plädierte für einen solchen Schritt. Trotz aller Fortschritte „ist die Inflation immer noch zu hoch“, sagte sie. „Angesichts der jüngst etwas abflauenden wirtschaftlichen Dynamik erscheint in der aktuellen Situation eine moderate Zinsanhebung von 25 Basispunkten vertretbar“, so Schnitzer.
Rückendeckung kam auch von dem früheren EZB-Ratsmitglied und international renommierten Geldpolitikexperten Athanasios Orphanides. „Die EZB muss die Zinsen stärker anheben, um die Inflation auf 2% zu senken. Weder eine zu niedrige Inflation noch eine Inflation von mehr als 2% ist im besten Interesse des Euroraums“, sagte Orphanides, Professor an der MIT Sloan School of Management und früher als Zentralbankchef Zyperns Mitglied des EZB-Rats. Gegen eine weitere Zinserhöhung sprach sich dagegen der frühere EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio aus. „Nach Zinserhöhungen um 425 Basispunkte sehen wir nun, dass die Eurozone im ersten Halbjahr nicht gewachsen ist und auf eine Rezession zusteuert. Normalerweise ist eine Zinserhöhung in einer Rezession nicht notwendig“, sagte er.
Inflation lässt langsam nach
Von Inflationsseite hatte es vor der Sitzung gemischte Signale gegeben. Entgegen der allgemeinen Erwartung hatte sich die Inflation im August nicht weiter abgeschwächt. Stattdessen stagnierte sie laut einer ersten Schätzung der EU-Statistikbehörde Eurostat bei 5,3%. Zwar ging die wichtige Kernrate ohne Energie und Lebensmittel wie erwartet erneut zurück, von 5,5% auf 5,3%. Und für die nächsten Monate zeichnet sich auch bei der Gesamtrate ein spürbarer Rückgang ab. Dennoch belegten die neuen Daten die Hartnäckigkeit des Inflationsproblems.
Eine wichtige Rolle beim Zinsentscheid spielten daher die Inflations- und Konjunkturprognosen der EZB-Volkswirte für den Zeitraum 2023 bis 2025. So hatte etwa der niederländische Notenbankchef Klaas Knot im Vorfeld gesagt, sein Votum an der Projektion orientieren zu wollen.
Einen Tag vor dem Zinsentscheid hatte die Nachrichtenagentur Reuters mit Verweis auf einen Insider berichtet, dass die Inflationsprognose der EZB-Volkswirte für 2024 von 3,0% auf über 3% angehoben werde. Daraufhin wurde an den Geldmärkten wieder mehrheitlich mit einer Zinserhöhung gerechnet. Anfang September hatten die Geldmärkte die Wahrscheinlichkeit einer Erhöhung noch auf nur 20% beziffert.
Mehr Tempo beim Bilanzabbau verkündete die EZB wie erwartet nicht. Die Falken im EZB-Rat liebäugeln mit einem schnelleren Abbau der Bilanzsumme. Die Bilanz des Eurosystems aus der EZB und den 20 nationalen Zentralbanken ist vor allem durch die beispiellosen Anleihekäufe in den Krisenjahren erheblich angewachsen. Zeitweise lag sie bei knapp 9 Bill. Euro. Inzwischen ist sie auf knapp 7,2 Bill. Euro zurückgegangen. Hintergrund ist zum einen das Auslaufen umfangreicher Liquiditätshilfen aus den Krisenjahren (TLTROs) und das allmähliche Auslaufen der Reinvestitionen fällig werdender Papiere beim Anleihekaufprogramm APP.
Um die Bilanz schneller abzubauen, plädieren einige Falken dafür, die vollständigen Reinvestitionen des Notfallanleihekaufprogramm PEPP früher einzustellen. Bislang stellt der EZB-Rat in Aussicht, daran bis mindestens Ende 2024 festzuhalten.