Osteuropa

Fehlende Rechts­staatlichkeit wird zum Konjunktur­risiko

Die EU-Kommission blockiert Milliarden für Polen und Ungarn. Doch bewirkt der Hebel, was er soll? Oder zementiert er nur die Spaltung der EU und wird zum Risiko für den Aufschwung in der gesamten Region?

Fehlende Rechts­staatlichkeit wird zum Konjunktur­risiko

Von Andreas Heitker, Brüssel

Im EU-Parlament in Straßburg fand Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Dienstag deutliche Worte zum Streit über die Rechtsstaatlichkeit in seinem Land: Von „Bedrohungen aus Brüssel“ und von „finanzieller Erpressung“ war da die Rede. 85% der Bevölkerung wollten in der EU bleiben, so Morawiecki. Aber die EU als immer stärker zentral regierte Organisation sei abzulehnen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hingegen zeigte sich in der Debatte „tief besorgt“ über das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts und kündigte neue Sanktionen an. Die europäischen Gelder müssten geschützt werden, betonte sie in Straßburg.

Dass der seit Jahren zwischen Warschau und Brüssel ausgefochtene Streit über die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit aktuell immer weiter eskaliert, hat viel mit der neuen Möglichkeit der EU-Kommission zu tun, Gelder zu kürzen beziehungsweise zurückzuhalten, wenn sie grundlegende demokratische Werte der EU bedroht sieht. Die Behörde hat zwar – sehr zum Ärger des Europaparlaments – angekündigt, erst einmal das für Dezember erwartete Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu dem neuen Instrument abzuwarten, bevor konkrete Schritte unternommen werden. Aber die milliardenschweren Geldflüsse für Polen und auch für Ungarn aus dem EU-Wiederaufbaufonds liegen trotzdem aktuell schon auf Eis.

Im Falle Polens geht es um beantragte 36 Mrd. Euro, bei Ungarn um 7,2 Mrd. Euro. Sollte Polen seinen Finanzrahmen auch an Krediten noch voll ausschöpfen, ständen dem Land EU-Mittel aus dem Wiederaufbaufonds von mehr als 11% des letztjährigen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu. Bei Ungarn sind es mehr als 12%. Ein gewaltiges Konjunkturpaket, das aufgrund des Streits über Rechtsstaatlichkeit erst einmal blockiert ist.

Die Ratingagentur Scope verweist darauf, dass beispielsweise in Ungarn das polarisierte politische Umfeld und der politische Gegenwind aus der EU die langfristige Vorhersehbarkeit der Politik einschränken, was Investitionen aus dem Ausland negativ beeinflussen könnte. „Dies, zusammen mit einer erheblichen Verzögerung bei der Verfügbarkeit von EU-Mitteln, könnte Ungarns Wachstumspotenzial merklich verringern und die Schuldentragfähigkeit belasten, was zu negativen Ratingmaßnahmen führen würde“, warnte Scope kürzlich.

Ungarn, Polen, aber auch Rumänien und Bulgarien mit ihren Korruptionsproblemen oder Slowenien, das wegen der Einschränkungen der Pressefreiheit in der Kritik steht: Haben die Rechtsstaatsprobleme überall in Osteuropa das Potenzial, zu einem Konjunkturrisiko für die ganze EU zu werden, weil die Brüsseler Mittel nicht mehr so fließen können wie bislang geplant?

Die Analysten der Helaba verweisen bei dieser Frage allerdings darauf, dass das Generieren von Wachstum durch den EU-Wiederaufbaufonds stark von der effizienten Umsetzung der Projekte abhängt. „Dabei stellt sich in Polen wie auch in anderen Ländern die Frage nach dem Zeitpunkt der Wirksamkeit: Der geplante rasche Einsatz des Wiederaufbaufonds birgt das Risiko, die aktuell hohe Wachstumsdynamik zusätzlich anzuheizen“, so die Helaba. Anders ausgedrückt: Vielleicht profitieren Polen und Ungarn ja im Endeffekt sogar davon, dass sie die Gelder erst später erhalten – denn aktuell würden diese ohnehin nur prozyklisch wirken.

Hebel in Richtung Austritt?

Die Bondmärkte haben auf die jüngsten Eskalationen noch nicht reagiert. Reagiert hat hingegen schon Ungarn und in seinem Finanzierungsplan für 2021 noch zusätzliche Optionen für eine Kapitalmarktfinanzierung geschaffen.

Scope erwartet, dass das neue Rechtsstaatsinstrument das Ausmaß der „institutionellen Aushöhlung“ in Ländern wie Ungarn, Polen und Rumänien einschränken wird, da die EU-Mittel in diesen Staaten von so großer wirtschaftlicher Bedeutung sind. Die DZBank hält auch einen anderen Effekt für möglich: Natürlich, Polen sei seit Beginn seiner EU-Mitgliedschaft der größte Nettoempfänger der Union, so Analyst Daniel Lenz. Sollte die EU die Zahlungen allerdings längerfristig und über den Wiederaufbaufonds hinaus reduzieren oder gar einstellen, „könnte die öffentliche Stimmung östlich von Oder und Neiße doch noch in Richtung eines Polexit kippen“, warnt er.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.