Frankreichs Regierung steht vor dem Aus
Regierungskrise in Paris
Frankreichs Regierung steht vor dem Aus
Politisches Chaos verunsichert Märkte - Linksbündnis Nouveau Front Populaire stellt Misstrauensantrag - RN will dafür stimmen
wü Paris
Von Gesche Wüpper, Paris
Frankreichs erst drei Monate alte Minderheitsregierung droht zu stürzen. Premierminister Michel Barnier hat sich Montagnachmittag entschlossen, das Budget für die Sozialversicherung Sécurité Sociale ohne Abstimmung mithilfe des Artikels 49.3 der Verfassung durchzusetzen. 185 Abgeordnete des Linksbündnisses Nouveau Front Populaire (NFP) haben deshalb einen Misstrauensantrag eingereicht, darunter Vertreter der linksextremen Partei La France Insoumise (LFI), der Sozialisten, der Kommunisten und der Grünen. Sie können auch auf die Stimmen des rechtsextremen Rassemblement National (RN) zählen. „Die Stunde der Wahrheit ist gekommen, die jeden vor seine Verantwortung stellt“, erklärte Barnier.
Das Ende seiner Regierung scheint damit so gut wie besiegelt, denn zusammen kommen das Linksbündnis NFP, der RN und seine Partner auf mehr als 330 Stimmen, also deutlich mehr als die für die absolute Mehrheit notwendigen 289 Stimmen. Die Abstimmung über den Misstrauensantrag dürfte jedoch erst Mittwoch oder Donnerstag erfolgen, spätestens kommenden Montag. Laut französischer Verfassung muss ein Misstrauensantrag innerhalb von 24 Stunden nach Anwendung des Artikels 49.3 eingereicht werden. Die Abstimmung darüber darf jedoch erst 48 Stunden danach erfolgen.
Rücktritt Macrons gefordert
Stürzt die Regierung, muss Präsident Emmanuel Macron einen neuen Premierminister ernennen. Theoretisch kann er Barnier erneut mit der Regierungsbildung beauftragen. Die Assemblée Nationale auflösen und abermals Neuwahlen ausrufen kann Macron jedoch laut Verfassung frühestens Ende Juni/ Anfang Juli, ein Jahr nach den letzten vorgezogenen Parlamentswahlen. LFI und andere Oppositionsvertreter setzen Macron verstärkt unter Druck, daher besser zurückzutreten und die eigentlich erst 2027 anstehenden Präsidentschaftswahlen vorzuziehen. Während sich die Regierungskrise in Paris zuspitzte, traf Macron am Montag zu einem dreitägigen Staatsbesuch in Saudi-Arabien ein.
Seine Partei werde für den Misstrauensantrag stimmen, kündigte RN-Chef Jordan Bardella auf Elon Musks Netzwerk X an. „Im Juni wollten die Franzosen mit dem Kapitel Emmanuel Macron abschließen“, schrieb er dort. „Es gibt keinen Ausgang für eine Regierung, die die Tradition des Macronismus fortsetzt, die sich weigert, die soziale Not zu berücksichtigen, und welche die Notwendigkeit ignoriert, das Wachstum wieder anzukurbeln.“
Neue Zugeständnisse
Da weder die Linksfront NFP noch eine andere Gruppierung in der Nationalversammlung über eine Mehrheit verfügt, kommt dem RN eine Schlüsselrolle zu. Marine Le Pen, die Vorsitzende der RN-Gruppe im Parlament, hatte deshalb bis zum Schluss versucht, Barnier zu weiteren Zugeständnissen zu zwingen. Der konservative Premierminister war letzte Woche auf einen Teil eingegangen und hatte auf eine vorgesehene Erhöhung von Steuern auf Strom verzichtet.
Kurz vor der eigentlich geplanten Abstimmung über die Finanzierung der Sozialversicherung kündigte er am Montag darüber hinaus an, wie von Le Pen gefordert, beabsichtigte Kürzungen bei der Erstattung von Medikamenten komplett fallen lassen zu wollen. Dagegen weigerte er sich, wie vom RN ebenfalls verlangt, die Rentenanpassung vorziehen. „Alle Manöver zur Rettung der Regierung Barnier sind gescheitert“, erklärte LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon auf X. Macron sei der einzige, der für die wirtschaftliche und soziale Krise Frankreichs verantwortlich sei, und müsse deshalb gehen, forderte er.
Bankaktien unter Druck
Laut „Le Monde“ haben die französischen Regierungen seit 1958 bereits 113 Mal Gebrauch von Artikel 49.3 gemacht, um haushaltspolitische Gesetzentwürfe ohne Abstimmung zu verabschieden. Bisher ist jedoch keine Regierung über die anschließend eingereichten Misstrauensanträge gestürzt.
Die politische Unsicherheit hat an der Börse von Paris am Montag französische Bankaktien belastet und auch den Euro unter Druck gesetzt. Der Spread zwischen zehnjährigen französischen Staatsanleihen und Bundesanleihen hat mit 89 Basispunkten einen neuen Höchststand seit 2012 während der Euroschuldenkrise erreicht. Einige Beobachter glauben, dass er bis auf 100 Basispunkte steigen könnte, sollte die Regierung nun tatsächlich stürzen. S&P hatte die Bonität Frankreichs am Freitag bei einer turnusgemäßen Überprüfung trotz der politischen Unsicherheit unverändert gelassen.
Haushaltsentwurf verzögert sich
Vor allem das hohe Haushaltsdefizit verunsichert die Märkte. Es dürfte in diesem Jahr auf 6,2% oder mehr steigen. Der Haushaltsentwurf 2025 sieht Anstrengungen über 60 Mrd. Euro vor, um es 2025 auf 5% zu drücken. Sollte vor Ende Dezember eine neue Regierung stehen, hätte sie verfassungsrechtlich erneut 70 Tage, um über den Haushalt zu debattieren. Wenn nicht, könnte die scheidende Regierung weiter die laufenden Geschäfte führen und ein Spezialgesetz verabschieden, um ab dem 1. Januar weiter Steuern erheben zu können.
„Die Bildung einer neuen Regierung, die einen stärkeren Rückhalt im Parlament hat, dürfte sehr schwierig werden“, urteilt Commerzbank-Experte Ralph Solveen. „All dies spricht dafür, dass die Sanierung der französischen Staatsfinanzen, sehr schleppend verlaufen wird, zumal es von der Konjunktur keinen spürbaren Rückenwind geben dürfte.“