GastbeitragIngo Mainert

Geldpolitik vom Kopf auf die Füße stellen

Die Inflation ist wieder nahe 2%. Doch unter den hohen Preissteigerungen der Vergangenheit leiden die privaten Haushalte weiterhin. Die EZB sollte daher eine Phase echt stabiler Preise anstreben.

Geldpolitik vom Kopf auf die Füße stellen

Geldpolitik vom Kopf auf die Füße stellen

Zugegeben: Der Wirtschaftsausblick für Europa ist stagnativ-mau und die Inflationsschätzungen für die kommenden zwei Jahre – der für die Notenbanken relevante Zeithorizont – sind grosso modo zielkonform. So gesehen mag es auf den ersten Blick nicht überraschen, dass die EZB, aber auch die Währungshüter in Großbritannien und der Schweiz angefangen haben, die Leitzinsen von ihren vorherigen Hochs aus zu senken. Bei den Eidgenossen, traditionell ein Niedrigzinsland, lebt sogar die Diskussion über das Thema „Negativzinsen“ wieder auf. Diese seien möglicherweise notwendig, um ein Abrutschen in eine Deflationsspirale abzuwenden.

Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. „Zentralbanker aller Länder, besinnt Euch!“, mag man den Verantwortlichen zurufen. Denn wenngleich die hohen Preisanstiegsraten der Jahre 2022/23 überwunden sein mögen: Unter deren Auswirkungen ächzen die privaten Haushalte weiterhin. Der seinerzeit erhebliche Teuerungsanstieg – in Deutschland wurde im Jahresvergleich immerhin die 10-Prozent-Marke überschritten – ist noch heute beim tagtäglichen Konsum zu spüren. Technisch gesprochen hat sich der Inflationspfad deutlich nach oben geschoben.

Das hohe Preisniveau ist Futter für populistische Parteien

Gehen die Zentralbanken nach erfolgreichem Kampf gegen den Preisauftrieb nun unmittelbar zum Tagesgeschäft über, zementieren sie diesen breit basierten Niveausprung. Dabei dürfte fraglich sein, dass die Verbraucher die Nonchalance teilen, dass nach dem erlebten Preisschock ein weiterer kontinuierlicher Teuerungsanstieg von „nur“ 2% ideal sei. Umfragen jedenfalls machen deutlich, dass die jüngere Vergangenheit als Lebenshaltungskostenkrise wahrgenommen wird. Populistischen Parteien gibt dies Auftrieb, in den USA hat das Thema augenscheinlich mit zum Wahlausgang beigetragen: „It’s the inflation, stupid!“ (Un-)Erschwinglichkeit von Gütern ist Demokratie-relevant. Denn – wie bereits der Gründungspräsident der Deutschen Bundesbank, Karl Bernhard, feststellte: „Stabiles Geld ist die Grundvoraussetzung für die Beständigkeit jeder sozialen und staatlichen Ordnung.“

Der Gastautor Ingo Mainert ist CIO Core Multi Asset bei Allianz Global Investors (AGI). Bildquelle: DVFA

Wäre es in diesem Lichte betrachtet nicht angemessen, nach dem Teuerungsschock erst einmal eine gewisse Periode stabiler oder sogar rückläufiger Preise anzustreben? Diese Frage stellt sich insbesondere auch mit Blick auf unsere südlichen Nachbarn. Die Schweiz ist traditionell als Hochpreisland bekannt. Um den daraus resultierenden „Einkaufstourismus“ Schweizer Bürger im nahegelegenen EU-Grenzgebiet einzudämmen, hat die dortige Regierung zum Jahresbeginn den Wert der Einkäufe, die steuerfrei in die Schweiz eingeführt werden können, halbiert. Muss in einem solchen Land wirklich für einen weiteren, kontinuierlichen Teuerungsanstieg gekämpft werden – oder doch eher dagegen?

Das Deflationstrauma ist übertrieben

Der eine oder die andere mag nun einwenden, dass die Zentralbanken eine destruktive deflatorische Spirale mit aller Macht verhindern müssen. Und das stimmt auch. Aber: Eine gewisse temporäre Phase leicht rückgängiger Preise ist mitnichten ein derartiger Abwärtsstrudel. Losgelöst davon erscheint das Deflationstrauma übertrieben. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich weist bereits seit Jahren darauf hin, dass mit Ausnahme der Weltwirtschaftskrise in den 1930ern stagnierende oder leicht rückläufige Preise in der Geschichte wenig Disruption respektive Kollateralschäden ausgelöst haben.

Bleibt die Frage, ob und wie weit die Leitzinsen von ihrem aktuellen Niveau aus weiter gesenkt werden sollten. Dies ist die Frage nach der Höhe des „natürlichen Zinses“, die in der Fachwelt intensiv diskutiert wird. Dieses Konzept geht auf den schwedischen Ökonomen Knut Wicksell zurück und es beschreibt – kurz zusammengefasst – dasjenige Zinsniveau, bei dem der Gütermarkt im Gleichgewicht und das Preisniveau stabil ist. Das Problem dabei: Bei der Bestimmung dieses Zinssatzes gibt es ein hohes Maß an Ungenauigkeit und die bekannten Modellansätze kommen zu stark voneinander abweichenden Schätzergebnissen. Das Konzept taugt daher wenig zur geldpolitischen Feinsteuerung. Unterkomplex wird die Höhe des „natürlichen Zinses“ für den Euroraum bei nominal rund 2% taxiert. Dabei wird allerdings als Preisniveaustabilitätsziel eine Inflationsrate von 2% vorgegeben.

EZB sollte Phase echt stabiler Preise anstreben

Wenn die EZB wie an den Märkten erwartet den Leitzins in den kommenden Monaten in Regionen von 2% oder leicht darunter schleust, alimentiert sie mit ihrer Geldpolitik den jüngsten Preisschock. Würde sie hingegen eine gewisse Phase echt stabiler oder sogar leicht rückläufiger Teuerung anstreben, müsste sie den Juni 2024 begonnenen Zinssenkungskurs bald beenden. Zugegebenermaßen würde die Euroland-Wirtschaft geschwächt. Aber: Das einzige Mandat der Euro-Notenbank ist Preisstabilität. Je stärker sie aktuell die Konjunktur stützt, umso mehr scheitert ihr de-jure-Auftrag. Ein Vertrauensverlust ist ohnehin bereits erkennbar.

Daher gilt: Die Geldpolitik muss vom Kopf zurück auf die Füße gestellt werden. Nach den zurückliegenden Preisschocks sollte sie nicht für, sondern gegen Inflation kämpfen. Dies heißt auch: Aus der in der letzten Dekade tendenziell asymmetrischen monetären Reaktionsfunktion – schnelles und rigoroses Gegenhalten bei einem Unterschießen des Inflationsziels, spätes Reagieren bei Preisschüben – muss wieder eine symmetrische werden. Negativ-, Null- sowie Niedrigstzinsen sind Teil des Problems, nicht die Lösung. Denn: Es kommt aktuell nicht nur auf die Preissteigerungsraten an, sondern auch auf die Niveaus.

Ingo Mainert

CIO Core Multi Asset bei Allianz Global Investors (AGI)

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