Hartes Ringen um Tempo und Ausmaß der Zinsschritte
Von Mark Schrörs, Frankfurt
Wenn der EZB-Rat am Donnerstag nächster Woche zu seiner Zinssitzung im 41. Stock des EZB-Hauptgebäudes im Frankfurter Ostend zusammenkommt, wird er erstmals seit elf Jahren, seit Juli 2011, die Leitzinsen anheben. Das hat er im Juni avisiert und daran dürfte jetzt niemand mehr rütteln. Vieles spricht für eine Zinsanhebung um 25 Basispunkte – aber so mancher Beobachter schließt zumindest 50 Punkte nicht kategorisch aus. Fraglicher und viel spannender ist, wie es darüber hinaus weitergeht – wie stark die EZB-Leitzinsen insgesamt steigen. Das gilt umso mehr, als die Europäische Zentralbank (EZB) in einem Dilemma zwischen Rekordinflation und Rezessionsängsten steckt und die Zinswende begleitet wird von Warnungen, die EZB wiederhole vermeintliche Fehler der Vergangenheit.
Fed prescht vor
„Wir beabsichtigen, die Leitzinsen der EZB auf unserer geldpolitischen Sitzung im Juli um 25 Basispunkte zu erhöhen“: Das verkündete der EZB-Rat Mitte Juni nach seiner Sitzung in Amsterdam. Eine solche Vorfestlegung hatte der EZB-Rat in der Vergangenheit stets abgelehnt. Jetzt aber schien es den EZB-Oberen angebracht. Vermutlich hätten sie unter anderen Umständen schon direkt im Juni die Leitzinsen erhöht. Dagegen sprach aus ihrer Sicht, dass sie stets versprochen hatten, erst die billionenschweren Anleihekäufe zu beenden. Die hatten sie vor Monaten bis Ende Juni zugesagt und sich damit die Hände gebunden. Seit dem 1. Juli ist Schluss mit den Nettokäufen – und der Weg zu Zinserhöhungen frei.
Mit der Zinserhöhung reagiert der EZB-Rat auf die Rekordinflation, die seit eineinhalb Jahren regelmäßig alle Erwartungen übertrifft, und auf die Aussicht, dass die Inflation auch mittelfristig über dem EZB-Ziel liegen könnte. Im Juni lag die Teuerung bei 8,6% – so hoch wie nie. Ohne staatliche Eingriffe wie Tankrabatt und 9-Euro-Ticket in Deutschland wäre die Rate wohl noch höher gewesen. Die EZB-Volkswirte haben im Juni für 2022 6,8% Inflation vorausgesagt und für die Jahre 2023 und 2024 3,5% sowie 2,1%. Die EZB strebt mittelfristig 2% an. Zugleich gingen sie im Juni von einer weiter soliden wachsenden Euro-Wirtschaft aus.
So mancher Euro-Hüter konnte sich im Juni für den Juli eine stärkere Zinserhöhung von 50 Basispunkten vorstellen. Das belegt das Sitzungsprotokoll. So mancher dürfte dafür auch jetzt noch Sympathie haben – zumal die Inflation weiter anzieht und andere Zentralbanken, allen voran die US-Notenbank Fed, mit 50- oder sogar 75-Basispunkte-Erhöhungen vorpreschen. Die Ankündigung von Juni und die meisten Kommentare seitdem sprechen aber für 25 Basispunkte. Die EZB will auch schauen, wie die Finanzmärkte die Zinserhöhung verdauen.
Immerhin ist es die erste Zinserhöhung seit elf Jahren – und die erste nach Jahren mit Niedrig-, Null- und Negativzinsen. Im März 2016 hatte der EZB-Rat seinen Leitzins – den Hauptrefinanzierungssatz – auf 0% gesenkt. Der Einlagenzins, den Banken für bei der EZB geparkte Liquidität bekommen, liegt sogar schon seit Juni 2014 unter null. Die Banken zahlen also drauf. Derzeit sind es −0,5%. Mit den Schritten hatte der EZB-Rat damals gegen die nach Weltfinanzkrise und Euro-Schuldenkrise viel zu niedrige und teils unter 0% liegende Inflation gekämpft. Selbst von einer Deflation war damals die Rede, also von einer Abwärtsspirale aus sinkenden Preisen und schrumpfender Wirtschaft.
Heutzutage ist das Bild ein ganz anderes: Die Inflation ist viel zu hoch und auf kurze Sicht ist kaum Besserung in Sicht, weil der Preisdruck auf den vorgelagerten Stufen extrem groß ist. Dazu trägt auch der Ukraine-Krieg wesentlich bei. Zudem ziehen die Inflationserwartungen an – was vor allem die Angst vor einer Lohn-Preis-Spirale schürt, mit der sich die Inflation verfestigen könnte. Zugleich wächst aber wegen des Kriegs und der hohen Inflation die Sorge vor einer Rezession – spätestens bei einem kompletten Stopp der Gaslieferungen aus Russland.
Die EZB steht also vor einer Gratwanderung. Im Juni hat der EZB-Rat für die übernächste Sitzung im September eine weitere Zinserhöhung angekündigt, dann vermutlich gleich um 50 Basispunkte. Zudem ging er auf Basis seiner damaligen Beurteilung davon aus, „dass es nach September angemessen sein wird, die Leitzinsen schrittweise, aber nachhaltig weiter anzuheben“. Vor allem diese Ankündigung schürte die Zinsspekulationen und ließ die Euro-Anleiherenditen steigen. Die Finanzierungsbedingungen verschärften sich so erheblich, zumal gleichzeitig die Aktienkurse deutlich nachgaben.
Wegen der zunehmenden Rezessionsängste haben die Zinserwartungen zuletzt aber schon wieder etwas nachgelassen. Zu Wochenbeginn preisten die Geldmärkte für dieses Jahr Zinserhöhungen um insgesamt 137 Basispunkte ein. Bis Ende 2023 waren es zuletzt 180 Basispunkte.
Vor allem die Hardliner im EZB-Rat, die sogenannten „Falken“, dringen auf deutliche Zinserhöhungen – auch als Signal an die Tarifpartner. So argumentiert beispielsweise Bundesbankpräsident Joachim Nagel. Der niederländische Zentralbankchef Klaas Knot sagte vor wenigen Tagen: „In einer idealen Welt würde man die Wirtschaft ankurbeln und gleichzeitig die Inflation senken wollen. Leider können wir das nicht tun, wir müssen uns entscheiden; in diesem Fall ist unser Mandat ganz klar – wir müssen uns dafür entscheiden, die Inflation zu senken.“ Es sei „sehr wahrscheinlich“, dass die EZB das in den nächsten „Monaten und Quartalen“ tun werde.
Dagegen mahnen die „Tauben“ im EZB-Rat wie Direktoriumsmitglied Fabio Panetta zur Vorsicht. Sie haben vor allem die Folgen des Ukraine-Kriegs im Blick. Sie sorgen sich auch vor einer neuen Euro-Schuldenkrise (siehe Text unten auf dieser Seite). Zudem verweisen sie darauf, dass die hohe Inflation vor allem exogene Gründe habe, gegen die EZB-Zinserhöhungen nichts ausrichten könnten. Diese Sicht teilen viele Volkswirte. Allerdings hat sich die Inflation zuletzt immer stärker ausgebreitet. Inzwischen liegt die Teuerungsrate bei mehr als 75% des EU-Warenkorbs oberhalb von 2%.
Ende der Negativzinsära
Konsens scheint im EZB-Rat nun zu sein, dass die Zeit der Null- und Negativzinsen vorbei ist. Weniger Einmütigkeit scheint aber zu bestehen bei der Frage, ob der Leitzins zumindest auf das sogenannte neutrale Niveau angehoben werden sollte – also jenes Niveau, das die Wirtschaft weder stimuliert noch bremst. Dieses Niveau wird in der EZB auf 1% bis 2% geschätzt. Bundesbankchef Nagel argumentiert sogar, dass der Zins womöglich zeitweise über dieses Niveau, also in den restriktiven Bereich, steigen müsse.
Immer wieder überschattet wird die Diskussion davon, dass Parallelen gezogen werden zu den Jahren 2008 und 2011, als die EZB kurz vor dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise sowie in die Euro-Krise hinein die Zinsen anhob. Das verschlimmerte nach Einschätzung vieler Beobachter und auch einiger Notenbanker die Lage, weswegen die EZB die Zinsen anschließend rasch wieder senkte. 2011 kassierte der EZB-Rat bei der ersten Sitzung nach Amtsantritt des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi im November die beiden Zinserhöhungen von April und Juli. Viele Notenbanker, vor allem die „Falken“, weisen den Vergleich zurück. „Aufgrund der gegenwärtigen Inflationsdynamik ist die Situation völlig anders als in den Jahren 2008 oder 2011“, sagte Nagel jüngst.
Bei ihrer Grundsatzrede beim EZB-Forum in Sintra vor zwei Wochen bekräftigte EZB-Präsidentin Christine Lagarde mit Blick auf Zinserhöhungen erneut ihr Mantra von „Gradualismus“ und „Flexibilität“. Zugleichbetonte Lagarde die Möglichkeit noch rascherer Zinserhöhungen als zuletzt avisiert – falls sich der Inflationsausblick verschlechtern sollte. Die Serie der negativen Inflationsüberraschungen im Euroraum habe sich zuletzt fortgesetzt, sagte Nagel nun am Dienstag. „Als EZB-Rat werden wir an unseren Worten und vor allem an unseren Taten gemessen.“