„Höhere Steuern wären Gift fürs Wachstum“
Mark Schrörs
Herr Professor Wieland, vierte Coronawelle, weltweite Lieferengpässe, Abschwächung der China-Konjunktur – droht der deutschen Wirtschaft nach dem Zwischenhoch im Frühling und Sommer zum Jahresende beziehungsweise -wechsel ein neuerlicher Absturz?
Nein, das glaube ich nicht. Ich gehe davon aus, dass sich die Erholung weitgehend wie erwartet fortsetzt. Industrie und Bau arbeiten weiter auf expansivem Niveau, wenn auch die Lieferengpässe und Materialkostensteigerungen deutlich bremsend wirken. Die Politik hat zudem versprochen, dass es nicht mehr zu einem Lockdown kommen wird. Das heißt, auch die konsumnahen Dienstleistungen könnten etwa mit 3G-Regelungen besser durch den Herbst als durch das Frühjahr kommen. Eine Nachweispflicht, dass man geimpft, genesen und getestet ist, wäre da sehr hilfreich. Das gilt übrigens auch für die Arbeit im Büro und der Fabrik. Es muss nachprüfbar sein für den Arbeitgeber. Das geht mit App, auch ohne dass man seinen Impfstatus offenbaren muss. Gift fürs Wachstum wäre es allerdings, wenn sich nach der Bundestagswahl Steuererhöhungen abzeichnen würden.
Und wie steht es um die Wirtschaft im Euroraum?
Grundsätzlich ähnlich. Aber die mediterranen Länder, in denen der Tourismussektor eine bedeutendere Rolle hat, haben es natürlich schwerer.
Große Hoffnung ruht nach wie vor auf dem Konsum – zu Recht?
Ja. Es hat sich in der Krise viel Kaufkraft angestaut. Zudem steigen bei einem Rückgang der Kurzarbeit auch wieder die Einkommen. Natürlich wird die angestaute Kaufkraft nicht auf einen Schlag abgerufen. Aber es stützt den Konsum, und zwar nicht nur für die in der Krise gefragten Güter und Dienstleistungen, die sich eher kontaktarm konsumieren lassen. Wenn nun Restaurants wieder offen sind und auch das Reisen möglich ist, sind viele durchaus bereit, deutlich mehr zu zahlen.
Union und SPD haben einen Lockdown ausgeschlossen. Ist das realistisch? Und was, wenn nicht?
Ich denke, die Erfahrungen mit der Delta-Variante in anderen Ländern legen nahe, dass das realistisch ist. Natürlich kann es lokal zu Einschränkungen kommen, aber nicht so weitreichend wie im Frühjahr. Ein Stillstand ist sicher nicht nötig. Industrie und Bau jedenfalls kamen ganz gut durchs vergangene Jahr. Für die stark betroffenen Dienstleistungen, die mit engerem Kontakt verbunden sind, kann es natürlich Rückschläge geben. Und wenn Schulen und Kindergärten wieder geschlossen würden, dann würde das Eltern zwingen, zuhause zu bleiben, und sie selbst bei Homeoffice-Möglichkeit schwer belasten. Produktiv sein ist da schwierig. Nicht zu reden von den zunehmend schweren und sehr nachteiligen Auswirkungen auf die Kinder. Da sollte vorgebaut werden.
Die Inflation zieht kräftig an. Ist der Inflationsanstieg wirklich nur so temporär, wie die Europäische Zentralbank (EZB) postuliert?
Er ist insofern temporär, dass gewisse Basiseffekte, die sich aus dem starken Rückgang der Inflation im Jahr 2020 ergeben, im kommenden Jahr aus der Statistik fallen. Aber der Anstieg, den wir dieses Jahr bisher erlebt haben, war deutlich höher als im ersten Quartal erwartet. Dementsprechend sind die Prognosen für die Inflationsspitzen in diesem Jahr stark revidiert und angehoben worden. Und dies setzt sich bereits zum Teil im nächsten Jahr fort. Die Inflation dürfte also 2022 und 2023 im Vergleich zu 2021 zurückgehen, aber auf ein höheres Niveau als noch zu Jahresbeginn erwartet. Das ist kein Grund zur Panik, aber genug Grund zur Vorsicht und Umsicht.
Die US-Notenbank steuert auf eine Drosselung ihrer Anleihekäufe zu („Tapering“). Die EZB will davon bislang nichts wissen und verspricht für Jahre Null- und Negativzinsen. Ist das angemessen?
Zur Vorsicht und Umsicht gehört zu beachten, dass Anleger für Inflation kompensiert werden wollen. Der Anstieg der Inflationserwartungen treibt also die mittel- und längerfristigen Zinsen nach oben. Die Notenbank kann das nicht auf Dauer durch Anleihekäufe verhindern. Solch eine Politik ist „self-defeating“. Sie sollte stattdessen klar signalisieren, wie sie abhängig von der Entwicklung die Geldpolitik strafft. Besser früher eine Normalisierungsstrategie auflegen als später. Dann kann man das über einen längeren Zeitraum strecken.
In Deutschland fordern Gewerkschaften wegen der hohen Inflation starke Lohnzuwächse, teils 5%. Was halten Sie davon? Und droht doch eine Lohn-Preis-Spirale?
Klar, das ist verständlich. Die Inflation frisst die Kaufkraft auf. Das wollen die Arbeitnehmer vermeiden. Umso wichtiger ist es, dass die EZB gegenhält und frühzeitig signalisiert, dass mit einem Anstieg der Inflation auf 2% im Euroraum auch eine Normalisierung der Geldpolitik verbunden sein wird, so dass die Inflation eben nicht dauerhaft darübersteigt. Die Tarifpartner müssen sich an der Arbeitsmarktsituation, am Produktivitätswachstum, das insgesamt eher geringer ist, und der Inflation orientieren. 5% – da müsste im betreffenden Bereich ja der Überschuss an offenen Stellen und die Produktivitätszunahme sehr groß sein.
In weniger als vier Wochen ist Bundestagswahl: Was sollten die drei wirtschaftspolitischen Prioritäten der nächsten Regierung sein?
Erstens, wir müssen vor allem private Investitionen mobilisieren und Innovationen erlauben, die uns helfen, die großen Herausforderungen Klimawandel und Digitalisierung erfolgreich zu bewältigen. Der Klimawandel erfordert, dass man den CO2-Preis in den Mittelpunkt der Emissionsreduktion für die ganze EU stellt und kein regionales und sektorales Detailmanagement betreibt. Es hilft nicht, so zu tun, als werde dies Otto Normalverbraucher nichts kosten. Aber wir sollten diese Kosten möglichst niedrig und transparent halten. Zweitens, wir müssen die Herausforderung des demografischen Wandels angehen. Man kann nicht weitere Wohltaten für die Rentner auf Kosten der arbeitenden Generationen einführen. Man sollte wenigstens nach der Wahl ehrlich sein und klarstellen, dass die steigende Lebenserwartung auch zum Teil mit einer längeren Lebensarbeitszeit einhergehen muss, bei guter Gesundheit natürlich. Drittens, Deutschland hat eine stabilisierende Rolle in Europa, der es gerecht werden muss, das heißt für Fiskalregeln eintreten, so dass Haftung und Kontrolle für staatliches Haushalten auf der gleichen Ebene bleiben.
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