„Japans Geldpolitik wird sich nur minimal ändern“
IM INTERVIEW: SAYURI SHIRAI
„Japans Geldpolitik wird sich nur minimal ändern“
Ex-Notenbankerin Sayuri Shirai hält Inflationsziel der Bank of Japan von 2 Prozent für unerreichbar, sagt aber ein baldiges Aus für den Negativzins vorher
Die Bank of Japan steht unter dem Druck des Finanzmarktes, nun die erste Zinserhöhung seit 17 Jahren vorzunehmen. Aber nach Ansicht von Shirai gibt es keinen Spielraum für weitere schnelle Zinsschritte. Dafür sei die japanische Volkswirtschaft zu schwach.
Frau Shirai, seit seinem Amtsantritt im April vergangenen Jahres spricht der japanische Notenbankchef Kazuo Ueda von einer Normalisierung der Geldpolitik. Bislang beließ er es aber bei kleinen Korrekturen. Wie erklären Sie sich sein Lavieren?
Laut dem revidierten Notenbankgesetz soll die Geldpolitik Preisstabilität erreichen. Lange Zeit war unklar, was das bedeutete, bis die Bank of Japan (BoJ) im Januar 2013 das Inflationsziel von 2% einführte. Doch Gouverneur Haruhiko Kuroda konnte die 2% in zehn Jahren nicht erreichen. Ueda trat dann mit dem Versprechen an, es doch noch zu schaffen. Das bedeutete jedoch, dass er die monetäre Lockerung seines Vorgängers fortsetzen musste.
Seit Mai 2022 liegt die Kerninflationsrate teils deutlich über 2%. Reicht das nicht für eine Normalisierung der Geldpolitik?
Das erreichte Maximum vor einem Jahr lag bei 4,2% – viel niedriger als in Europa und den USA. Im Januar waren es 2%. Wenn man Nahrungsmittel und Hotelkosten herausrechnet, aber nur noch 0,4%. Wir können also nicht sagen, dass die zugrundeliegende Inflation bei 2% steht. Wenn es eine Aussicht auf „stabile“ 2% gäbe, dann könnte man die Geldpolitik normalisieren. Aber in der zweiten Jahreshälfte soll die Inflationsrate zurückgehen und 2025 deutlich unter 2% liegen. Wie kann die BoJ da eine Normalisierung rechtfertigen? Hier liegt die größte Herausforderung für Ueda.
Er argumentiert aber mit dem Tugendkreis von steigenden Preisen und Löhnen.
Richtig. Aber das funktioniert nur mit der Aussicht auf diese 2% Inflation. Das Wichtigste in der Geldpolitik ist die Forward Guidance, also die Kommunikation über das weitere Handeln der Notenbank. In Japan hat sie zwei Elemente: Erstens wird die BoJ die Zinskurve so lange kontrollieren, bis die 2% „stabil“ erreicht sind. Wenn das nicht der Fall ist – wie kann die BoJ dann mit der Zinskurvenkontrolle aufhören? Das wäre inkonsistent. Zweitens soll die Geldbasis so lange expandieren, bis die Kerninflation die 2% übersteigt.
Aber der Finanzmarkt ignoriert diese Widersprüche und dringt auf eine Zinserhöhung.
Verständlich, man will Geld verdienen. Aber als ehemaliges Führungsmitglied sage ich, dass für die BoJ die Einheitlichkeit und Glaubwürdigkeit ihres Rahmenwerks am wichtigsten ist. Unter diesem Blickwinkel ist man noch nicht bereit für eine Normalisierung. Ich sehe nicht wirklich eine Möglichkeit, in diesem Land eine stabile Inflation von 2% zu erreichen.
Nun kommt es aber gerade zu den kräftigsten Lohnerhöhungen seit Jahrzehnten. Ist das wirklich kein ausreichendes Argument?
Die Tariferhöhungen werden ab April umgesetzt, aber die entsprechenden Daten dazu bekommen wir erst im Juni. Im April 2023 ergaben die Frühjahrsverhandlungen eine Anhebung um 3,8%. Aber die Löhne bei kleinen Firmen stiegen zwischen April und November im Schnitt nur um 1,3%. Also sollte die BoJ besser bis Juli warten. Vergessen wir nicht den zweiten Punkt, die laufende Überprüfung der letzten 25 Jahre der Geldpolitik. Das Ergebnis kennen wir noch nicht. Wenn ich Gouverneurin wäre, würde ich alles gleichzeitig abhandeln – die Überprüfung vorlegen und die Konsequenzen ziehen.
Aber ergäbe es nicht Sinn, wenn wenigstens der Negativzins fallen würde?
In der Tat möchten die Mitarbeiter von Ueda den Negativzins loswerden. Den Grund dafür sehe ich darin, dass der Negativzins in Japan einen viel größeren Schaden angerichtet hat als etwa der Negativzins der EZB. Die EZB war konsistent in ihrer Politik. Der Einlagenzins war bei −0,5% und der Kreditzins zwischen −0,5% und −1%. Aber die Bank of Japan gab den Geschäftsbanken in der Pandemie einen positiven Einlagenzins. Auch der Teil der Einlagen der Geschäftsbanken, für die der Negativzins von −0,1% gilt, wurde immer kleiner. Im Grunde genommen hat die BoJ ihre eigene Politik verneint. Also muss der Negativzins in diesem Jahr verschwinden.
Wie wird die BoJ entscheiden?
Wir werden nur eine minimale Änderung sehen. Der Negativzins wird abgeschafft, der Einlagenzins auf 0,1% steigen. Dann muss logischerweise auch das Null-Prozent-Ziel für die zehnjährige Rendite fallen. Die 1% als lockere Obergrenze wird bleiben, um ein Überschießen zu vermeiden. Dann halten sich die Störungen am Finanzmarkt in Grenzen.
Welche anderen Konsequenzen werden sich ergeben?
Ich denke, die BoJ muss weiter sehr viele Staatsanleihen kaufen und dazu eine entsprechende Forward Guidance geben, solange sie weiter ihr Ziel verfolgt, die Geldbasis zu expandieren. Irgendwann sollte sie nur noch so viele Anleihen kaufen, dass ihr Bestand auf gleicher Höhe bleibt. Aber das ist insofern problematisch, als die Regierung gerade mehr Schulden macht. Also müsste die BoJ mit ihr sprechen.
Sollte die BoJ nicht auch das 2-Prozent-Ziel aufgeben?
Eine Option wäre, das Inflationsziel zu flexibilisieren, eine Rate zwischen 1% und 3% anzustreben. Dieses Ziel würde man dann alle drei Jahre überprüfen. Dann ließe sich die Geldpolitik ohne innere Widersprüche normalisieren. Solange wir an den 2% festhalten, gibt es das Problem der Inkonsistenz.
Einige ausländische Beobachter meinen, dass es in Japan wie vorher in der Eurozone und den USA mehrere Zinserhöhungen hintereinander geben wird.
Ich weiß, dass viele Ausländer so denken. Aber die Abschaffung des Negativzinses reicht erst einmal. Angesichts der Schwäche von Japans Volkswirtschaft gibt es für schnelle Zinsschritte keinen Spielraum.
Mit Spielraum beziehen Sie sich auf das hohe Haushaltsdefizit?
Die Regierung hat davon profitiert, dass die Notenbank die Zinsen niedrig gehalten hat. Inzwischen hat die BoJ 53% der Staatsanleihen (JGBs) gekauft. Stellen Sie sich mal vor, sie hätte das nicht getan. Dann wären die Zinsen viel höher. Das beste Szenario wäre, wenn die BoJ das jetzige Bestandsniveau bei JGBs hält. Aber das wäre schwierig. Die Regierung steigert gerade die Ausgaben für Kinder, Klimaschutz und Verteidigung, erhöht aber keine Steuern. Also muss die Notenbank weiter JGBs kaufen.
Wie lange kann das mit den Staatsanleihekäufen so weitergehen?
Auf jeden Fall nicht für immer. Im Moment halten Ausländer nur 12% der Staatsanleihen. Japanische Versicherer und Pensionskassen kaufen noch JGBs. Wir haben keine Schuldenkrise. Aber die jetzige Politik ist nicht nachhaltig. In der alternden Gesellschaft gehen die Einzahlungen in Pensionsfonds zurück. Die Senioren hören auf zu arbeiten und brauchen ihre Ersparnisse auf. Dann werden wir abhängiger sein von ausländischem Kapital. Diese Investoren werden uns dann fragen, was für eine Politik wir da eigentlich machen, das wäre dann ein potenzieller Auslöser.
Sie erwarten deshalb eine Schuldenkrise?
Nicht in den nächsten zehn Jahren. Zum Glück haben wir in Japan keine Inflation und über die Hälfte der Schulden liegt bei der Bank of Japan, deshalb können wir erst mal so weitermachen. Aber das ist nicht gesund. Wenn andere Länder so haushalten würden, wäre längst ihre Bonität herabgestuft worden. Aber Japan ist ein Sonderfall. Noch kann die BoJ die langfristigen Zinsen drücken. Aber der Druck wird zunehmen. Die Situation ist einfach nicht normal. Kein Land hat das jemals ausprobiert. Also wissen wir nicht, wie lange es gut gehen wird.
Zur Person
Sayuri Shirai ist Ökonomie-Professorin an der Keio-Privatuniversität in Tokio. Zuvor arbeitete sie unter anderem für den Internationalen Währungsfonds. Von April 2011 bis März 2016 war sie Mitglied im „Policy Board“ der Bank of Japan.
Das Interview führte Martin Fritz.