Impfstoff-Streit

Katalysator Covid-19

Der Streit um den Sars-CoV-2-Impfstoff wird dazu führen, dass Großbritannien und die EU schneller auseinanderdriften als ohnehin schon.

Katalysator Covid-19

Wer geglaubt hatte, dass zwischen Großbritannien und der EU nicht noch mehr Porzellan zerschlagen werden kann, wurde durch den Streit um den Sars-CoV-2-Impfstoff von AstraZeneca eines Besseren belehrt. Nun ist eine Scheidung in der Regel keine vergnügliche Angelegenheit. Die meisten Briten lernen ihre ehemaligen Partner vom Kontinent aber nun erst richtig kennen. Hätte die EU-Kommission rechtzeitig Fehler bei der Beschaffung zugegeben und in ihrem Vorgehen gegen den Pharmakonzern weniger Ar­roganz an den Tag gelegt, wäre die Atmosphäre nicht so vergiftet. Covid-19 wirkt wie ein Katalysator für die ohnehin schwelenden Spannungen.

Es wird noch viel mehr Streit geben, bis sich das neue Verhältnis zwischen London und Brüssel austariert hat. Doch kaum einer dürfte so toxisch sein wie dieser. Denn nun fürchten viele Briten nicht ganz zu Unrecht, dass Brüssel ihnen „ihren“ Impfstoff wegnehmen will. Das Land hat bereits mehr als 100000 Tote zu beklagen. Da wäre statt Kasernenhoftons die bescheidene Bitte angesagt gewesen, die britischen Impfstoff-Produktionskapazitäten vorübergehend gemeinsam zu nutzen. Zu spät. Der AstraZeneca-Chef Pascal Soriot schmetterte bereits einen feindlichen Übernahmeversuch des Viagra-Herstellers Pfizer ab. Er wird sich auch von der EU-Kommission nicht einschüchtern lassen.

Man muss dem britischen Premierminister Boris Johnson fast schon dankbar dafür sein, dass er die Steilvorlage von Kommissionschefin Ursula von der Leyen nicht dankbar angenommen hat, um gegen die EU Front zu machen. Das mag daran liegen, dass man sich in London als Gewinner der nicht gerade einvernehmlichen Trennung sieht. Während niederländische Grenzer ihren Spaß daran haben, aus Großbritannien kommenden Lkw-Fahrern die Schinkenbrote abzunehmen, und französische Zöllner schottische Krustentierexporteure schikanieren, setzt man in London auf Flexibilität und Toleranz, um den gegenseitigen Warenaustausch am Laufen zu halten. Sonst könnte man ja auch einmal kritisch nachfragen, ob der 750 Mrd. Euro schwere Corona-Wiederaufbaufonds der EU nicht für Unebenheiten auf dem viel beschworenen „Level Playing Field“ sorgt, oder den Abbau des Handelsbilanzdefizits mit der EU in Angriff nehmen. Die Briten müssten eigentlich den Eindruck gewinnen, dass Bitterkeit das Handeln der Europäer bestimmt und man in Brüssel um jeden Preis vermeiden will, dass sich der Brexit am Ende als Erfolgsgeschichte erweist.

Das Vereinigte Königreich dürfte der Befürchtung, es werde sich als formidabler Konkurrent erweisen, schon bald gerecht werden. Beim Thema Impfstoffe zeigt sich, was man im Alleingang besser und schneller machen kann. London beteiligte sich nicht an der gemeinsamen Beschaffung der Europäer und hatte am Ende die Nase vorn. Impfstoffe wurden schneller zugelassen. Die vergleichsweise effiziente Organisation der Massenimpfungen hat dazu geführt, dass schon bald so gut wie alle Mitglieder von Risikogruppen die erste Dosis erhalten haben werden. Johnson wurde vorgeworfen, mit dem Impferfolg zu protzen. Er hat allen Grund dazu. Denn je größer die Zahl der Immunisierten, desto schneller kann die britische Wirtschaft wieder hochgefahren werden – ein enormer Wettbewerbsvorteil gegenüber Kontinentaleuropa, wo bislang kein Ende der Ausgangsbeschränkungen absehbar ist. Großbritannien hat mit seiner vom privaten Konsum geprägten Wirtschaft die besten Voraussetzungen für eine schnelle Erholung. Auf vergleichbarer Basis ist sie weit weniger eingebrochen, als die offizielle Statistik ausweist. Denn das Statistikamt ONS orientiert sich an Best Practices, die andere ignorieren.

Am deutlichsten wird das Auseinanderdriften in der Außenpolitik. Bislang war Großbritannien für Europa die Brücke über den Atlantik. Während man die Allianz mit den USA in Westeuropa mit wachsender Ambivalenz betrachtet, hält London eisern daran fest. Johnson wird bestens mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden klarkommen, denn beiden geht es um eine Wertegemeinschaft, die über die Schaffung von Mehrwert hinausgeht. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als im Verhältnis zur Volksrepublik China. Obwohl man in der britischen Wirtschaft froh über gute Handelsbeziehungen mit Beijing wäre, prangerte London die Menschenrechtsverletzungen in Hongkong und Xinjiang schonungslos an. Die EU schloss lieber ein Investitionsabkommen. Für London wird die Anglosphäre künftig wichtiger sein.

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