Kursbestimmung für die Geldpolitik der Fed
Unter Anlegern herrscht häufig der Irrglaube, dass die US-Notenbank Fed mit ihrer neuen geldpolitischen Strategie eines durchschnittlichen Inflationsziels („Average Inflation Targeting“, AIT) nun aktiv danach strebt, die durch die Pandemie und Jahre massiver Defizite verursachten US-Staatsschulden durch höhere Inflation abzubauen. Ein gewisses Maß an Inflation wäre zwar begrüßenswert, um diese schwere Schuldenlast zu verringern. Doch die Duldung einer durchweg höheren Zielinflation würde einen politisch derart sensiblen und erschütternden Strategiewechsel darstellen, dass dies nicht der Fall sein kann. In der Tat bleibt das Inflationsmandat der Fed – mit einem Inflationsziel von 2% – unverändert. Der Grund für die Entscheidung zugunsten eines neuen Ansatzes liegt darin, dass dieses Ziel jahrelang unterschritten wurde.
Wer der Fed aufmerksam folgt, weiß, dass sie ihr „Tempolimit“ meist vom aktuellen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder den Beschäftigungszahlen abhängig macht. Damit unterschätzt sie strukturell die wirtschaftlichen Überschusskapazitäten; sie schwenkt also zu schnell auf einen strafferen Kurs, wodurch die Wirtschaft ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen kann. Die Zentralbanken haben hinsichtlich der geldpolitischen Maßnahmen den einfachen und risikoscheuen Weg genommen, und die Ergebnisse sprechen für sich.
Im Rahmen der neuen AIT-Strategie wird die Fed die Geldpolitik jedoch nur straffen, wenn sie zeitnahe Fortschritte bei Inflation und Beschäftigung feststellt. Damit sind die Modelle und Prognosen vom Tisch, die sich als hoffnungslos ungenau erwiesen haben.
Die Fed – wofür ist sie da?
Da die Fed Zukunftsprognosen damit gewissermaßen aufgibt und im Vorfeld keine Maßnahmen mehr gegen die Inflation ergreift, könnte man sich fragen, wofür die Fed noch gebraucht wird. Da die Fed zudem der Überzeugung ist, Geldpolitik wirke sich mit einer 12- bis 18-monatigen Verzögerung aus, ist diese neue Haltung mit deutlichen Risiken behaftet. Angesichts der beträchtlichen Konjunkturmaßnahmen, mit denen die Wirtschaft zur Bekämpfung der Pandemie gestützt wurde, sind Anleger mittlerweile von der Inflation besessen, denn die Konsumentenpreisindizes dürften über die nächsten Monate in die Höhe schnellen. Doch wie glaubhaft ist das?
Die beiden für eine erfolgreiche Reflation notwendigen Voraussetzungen sind leichtere Finanzierungskonditionen und ein Investitionsschub in der Wirtschaft. Vor der Pandemie lahmte die Weltwirtschaft, da die nach der Finanzkrise eingeführten politischen Maßnahmen deutlich zu kurz griffen und beide Faktoren nicht gegeben waren.
Das erste große strukturelle Problem ist die Dominanz des US-Dollar in der Weltwirtschaft. Über die vergangenen zehn Jahre hat sich die Weltwirtschaft erheblich verändert. China und andere Schwellenländer machen inzwischen 60% des globalen BIP aus, doch der US-Dollar ist nach wie vor die dominierende Weltwährung. Während sich die US-Wirtschaft überdurchschnittlich entwickelte, die Fed eine übermäßig straffe Leitzinspolitik betrieb und der US-amerikanische Technologiesektor wuchs, saugte der daraus resultierende starke Dollar den Schwellenmärkten das Leben aus, was sich an einer jahrelangen Underperformance der Aktien zeigte. Kapitalzuflüsse in die USA führten anderswo zur Verschärfung der finanziellen Rahmenbedingungen und schränkten das Wachstum ein, da die Rückzahlung der über Jahre aufgebauten Dollar-Schulden immer schwieriger wurde. Außerdem schnitt der starke Dollar den USA die Luft ab, da der Fertigungssektor im Vergleich zum Finanzsektor aufgrund geschwächter Wettbewerbsfähigkeit und unterdrückter Importinflation weiterhin rückläufig war. Wegen der Erfordernisse im In- und Ausland braucht die Welt einen schwächeren Dollar, und die AIT-Strategie der Fed sollte durch die Senkung der realen Zinssätze in den USA zur Erreichung dieses Ziels beitragen.
Das zweite strukturelle Problem besteht in dem Ersparnisüberschuss aufgrund der mangelnden Ausgaben von Einkommen. Der fiskalpolitische Impuls der US-Regierung sollte dazu beitragen, dieser Belastung entgegenzuwirken und zudem den Mangel an Investitionen in die US-Wirtschaft seit der Obama-Ära zu beheben. Dieser Wachstumsschub ist dringend notwendig, um in der restlichen Wirtschaft Vertrauen aufzubauen und Ausgaben zu fördern. Nach der Finanzkrise wiesen die Bilanzen derartige Wertminderungen auf, dass Unternehmen und Konsumenten in Schockstarre verfielen. Der einzige handlungsfähige Akteur, der die übermäßigen Sparvermögen der Wirtschaft nutzen konnte, war die Regierung. Im Jahr 2011 kamen die Sparmaßnahmen zu früh und untergruben die Erholung exakt zum falschen Zeitpunkt. Angesichts geringer Zinskosten und einer Zentralbank, die eine niedrige Inflation prognostiziert, spielen Staatsdefizite einfach keine Rolle. Bei wirtschaftlichen Problemen sollten so lange Staatsausgaben getätigt werden, bis der Privatsektor erfolgreich übernehmen kann. Ohne die Dynamik des privaten Sektors stehen die Ersparnisüberschüsse für Ausgaben zur Verfügung, ohne dass Inflation oder eine Staatsschuldenkrise zu befürchten wäre. Glücklicherweise scheinen die Regierungen das jetzt zu verstehen.
Einige Beobachter sind der Auffassung, diese politischen Maßnahmen erzeugten unverantwortliche Inflationsrisiken. Allerdings ist meiner Ansicht nach noch ein weiter Weg zurückzulegen, auf dem noch viel schiefgehen kann. In den USA sind aktuell 8 Millionen Menschen weniger in Beschäftigung als vor der Pandemie. Es braucht Zeit, diese Lage zu verbessern, und der Lohndruck ist sehr gering. Die Wirkung von Infrastrukturausgaben wird sich ebenfalls zeitverzögert einstellen und über viele Jahre verteilen. Der Effekt von Anreizschecks wird nachlassen, da Fiskalklippen voraussichtlich zu einem neuen Fokus der Märkte werden.
Voraussetzung der zum Erreichen nachhaltiger Reflation nötigen „Fluchtgeschwindigkeit“ ist die Zuversicht der Unternehmen zur Tätigung von Investitionen und der Konsumenten zur Tätigung von Ausgaben. Im Erfolgsfall werden der Beschäftigungszuwachs und höhere Löhne als positive Rückkopplungsschleife dienen und einen Schuldenabbau in der US-Wirtschaft sowie ein stärkeres Wachstum bewirken. Die dadurch erzeugte höhere Inflation wiederum wird das Schuldenniveau in der Wirtschaft senken. Es besteht zwar keine Garantie dafür, dass es mit dem gegenwärtigen Policy Mix so kommen wird, doch die Chancen stehen mit Sicherheit deutlich besser als in den Jahren vor der Pandemie.
Eine Gratwanderung
Obwohl die Erzeugung des richtigen Inflationsniveaus eine Gratwanderung ist, scheinen die Risiken im Zusammenhang mit einem Inflationsanstieg gering. Die Zentralbanken konzentrieren sich zu Recht weiterhin auf Abwärtsrisiken. Die Tätigkeit der Zentralbanken wird erheblich schwieriger werden, da ein „vorübergehender“ Charakter der Inflation von den Märkten im weiteren Jahresverlauf bezweifelt werden wird. Es ist ein tückischer Weg, doch einer, dem die Entscheidungsträger folgen müssen, um das richtige Ziel zu erreichen. Vor allem aber müssen sie Kurs halten.