Nagel will „konsequente“ Zinspolitik
rec/ba Frankfurt
Am Tag nach dem richtungsweisenden EZB-Zinsentscheid hat Bundesbankchef Joachim Nagel „konsequentes Handeln“ der Geldpolitik angemahnt. „Der Rückgang der Inflationsraten im Euroraum wird kein Selbstläufer sein“, unterstrich Nagel mit Veröffentlichung aktualisierter Prognosen zu Teuerung und Wachstum. Wie die EZB hat die Bundesbank ihre Erwartungen für die Verbraucherpreise zum wiederholten Male erhöht.
Der EZB-Rat hatte am Donnerstag beschlossen, die Leitzinsen im Juli erstmals seit fast elf Jahren erhöhen zu wollen, und damit eine bemerkenswerte Kehrtwende besiegelt. Dabei hat die EZB Sorgen um nachlassendes Wachstum in der Eurozone, die lange ihre Geldpolitik bestimmte, zugunsten des Inflationskampfes hintangestellt. Die Inflation stelle ein „großes Problem“ dar, räumte EZB-Chefin Christine Lagarde ein.
Nagel sagte nun: „Der Preisdruck hat sich zuletzt sogar noch mal verstärkt, was die jetzt vorgelegten Projektionen nicht vollständig abbilden.“ Die Bundesbank hält deshalb Teuerungsraten von im Schnitt mehr als 7% in diesem Jahr für möglich. Ihren Umfragen zufolge haben auch die mehrjährigen Inflationserwartungen der Bundesbürger weiter angezogen: Die im Durchschnitt der nächsten fünf Jahre erwartete Inflationsrate stieg von 5,2 auf 5,3%.
Auf der anderen Seite lassen die Bundesbank-Projektionen zum Wachstum darauf schließen, dass die deutsche Wirtschaft auf schwierige Monate zusteuert. Die Unsicherheit war lange nicht mehr so hoch, und falls die russischen Energielieferungen abrupt enden sollten, steht nach Ansicht der Bundesbank ein markanter Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität bevor.
Noch trotze die hiesige Wirtschaft „dem Gegenwind von Ukraine-Krieg, hoher Teuerung und Lieferengpässen“, so die Bundesbank. Die Erholung verlaufe wegen dieser Faktoren gleichwohl deutlich gedämpfter als vor einem halben Jahr angenommen. Für das reale, kalenderbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) veranschlagt sie für dieses Jahr ein Wachstum von 1,9% statt 4,2% im Dezember (siehe Grafik). 2023 sollen es 2,4 (zuvor: 3,2)% werden, 2024 1,8 (0,9)%. Das Vorkrisenniveau von Ende 2019 werde „erst am Ende des laufenden Jahres und damit ein halbes Jahr später als zuvor erwartet“ erreicht, heißt es im Bundesbank-Monatsbericht. Ende 2023 dürfte die Wirtschaft zu ihrem Produktionspotenzial aufschließen. 2024 sollen die gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten wieder ungefähr ausgelastet sein.
Die Bundesbank erwartet dabei, dass ab der zweiten Jahreshälfte die Energierohstoffpreise etwas sinken, die Lieferengpässe graduell nachlassen und die Auslandsnachfrage wieder zulegt. Der Privatkonsum komme trotz der hohen Inflationsraten durch den schon lange prognostizierten teilweisen Abbau der Corona-Ersparnisse wieder in Schwung. Und zusätzliche staatliche Verteidigungsausgaben dürften durchgängig für Impulse sorgen, so die Prognose.
Die gesamtstaatliche Defizit- und Schuldenquote wird laut Bundesbank „spürbar zurückgehen“. Konkret soll die Schuldenquote, die 2019 mit 58,9% erstmals seit 2002 unter dem Maastricht-Grenzwert von 60% lag und 2021 auf 69,3% geklettert war, bis 2024 auf rund 63% fallen.
Die vom Bundesrat beschlossene Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro dürfte kaum Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben: Da die Arbeitskräfteknappheit inzwischen bis in den Helferbereich reiche, dürften weniger Minijobs verloren gehen als 2015 bei der Mindestlohneinführung und die Arbeitslosigkeit nur geringfügig steigen, erwartet die Bundesbank. 2023 und 2024 dürfte es zu „wenig Bewegung bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit“ kommen. Reserven zur Ausweitung des Arbeitsvolumens sieht die Bundesbank vor allem bei der Arbeitszeit je Erwerbstätigen. Der DIHK-Konjunkturumfrage vom Frühsommer zufolge zählt der Fachkräftemangel neben den Arbeitskosten sowie vor allem den Energie- und Rohstoffpreisen zu den drei größten Geschäftsrisiken.