Evergrande-Krise

Nervenprobe für Chinas Immobilien­markthüter

Chinas Bauindustrie ist in den vergangenen Monaten ziemlich aus dem Tritt geraten und hat dabei auch Schleifspuren in verwandten Sektoren wie Stahl, Zement, Chemikalien sowie anderen Baustoffen hinterlassen.

Nervenprobe für Chinas Immobilien­markthüter

Von Norbert Hellmann, Schanghai

Passend zur Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow zunächst einmal die gute Nachricht zur gegen­wärtigen Misere rund um die Überschuldung des Immobilienentwicklers China Evergrande und die be­gleitenden Verwerfungen am weltgrößten Wohnimmobilienmarkt: Chinas Bauindustrie ist in den vergangenen Monaten ziemlich aus dem Tritt geraten und hat dabei auch Schleifspuren in verwandten Sektoren wie Stahl, Zement, Chemikalien sowie anderen Baustoffen hinterlassen, die wiederum zu den größten industriellen Elektrizitätsverbrauchern zählen. Prompt lässt sich in den Daten des Real-Time-Tracking-Dienstes für klimaschädliche Schadstoffemissionen, Carbon Monitor, ein deutlich abgeschwächtes Wachstum der chinesischen CO2-Emissionen erkennen.

Der für Klimaschützer erfreuliche Wirkungszusammenhang ist für China-Watcher freilich ein beredtes Warnsignal. Sollte die Malaise im chinesischen Wohnbaugewerbe über die kommenden Monate hinweg anhalten, wird sich die seit Jahresmitte zu beobachtende Konjunkturabkühlung in der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft weiter fortsetzen. Damit dürfte auch dem zarten Pflänzchen einer postpandemischen Wirtschaftserholung auf globaler Ebene einiger Nährboden entzogen werden.

Chinas Immobilienmarktgeschehen samt angegliederten Branchen von Baumaterialien, über Wohnungseinrichtungen bis hin zu immobilienverwandten Diensten, zeitigt einen gewaltigen konjunkturellen „Footprint“ und kommt für geschätzt 25% der Wirtschaftsleistung auf. Das dürfte Weltrekord für eine große Volkswirtschaft sein, selbst in den USA kommt man nur auf etwa 15% Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Kein Wunder also, dass die internationale Finanzgemeinde nervös auf die Nöte von Evergrande schielt. Es geht nicht nur um Ausfallrisiken bei chinesischen Hochzinsanleihen, unter denen auch internationale Investorenkreise leiden. Wichtiger erscheint die Frage, wie die Verschuldungskrise bei den Bauträgern den heimischen Immobilienmarkt insoweit destabilisiert, dass Chinas Wachstumsdynamik ernsthaft kompromittiert wird. Dabei zehrt die Datenlage an den Nerven.

Marktpsychologie angegriffen

Chinas Wohnungsbaumaschinerie ist ins Stottern gekommen, weil es auf der Angebots- wie auch auf der Nachfrageseite hapert. Dabei färben Evergrandes Nöte heftig auf die Marktpsychologie ab. Der zweitgrößte Immobilienentwickler hat zahlreiche Hochhausprojekte unterbrechen müssen, weil Rechnungen für Zulieferer, Handwerker und Baukontraktpartner nicht korrekt bezahlt werden konnten. Entsprechend greift die Nervosität auf chinesische Wohnungskäufer über. Diese müssen in der Regel in Vorkasse treten, um die Finanzierung von Apartmentkomplexen zu ermöglichen, und müssen nun befürchten, dass von wackelnden Bauträgern verantwortete Bauprojekte durch eine Insolvenzproblematik verschleppt werden.

Der „Evergrande-Effekt“ führt denn auch zu einer ungewöhnlichen Käuferzurückhaltung im Wohnungsmarkt. Im September wurde ein Rückgang der verkauften Wohnungsflächen um 17% gegenüber Vorjahr registriert, die frisch hereingekommenen Oktoberdaten zeigen gar einen Rückgang von 32% an. Das ist beunruhigend, weil der gebremste Verkaufsumschlag von Neuwohnungen die Liquiditätslage der Immobilienfirmen weiter unter Druck setzt und natürlich auf die Häusermarktpreise abfärbt. So hat die Verschuldungskrise in Verbindung mit Res­triktionen der Regierung zur Unterbindung von spekulativen Wohnungskäufen eine Wende eingeleitet.

Im September sah man erstmals seit sechs Jahren (zu Zeiten eines monumentalen Aktiencrashs) wieder einen Preisrückgang für neu verkaufte Wohnflächen im Vergleich zum Vormonat. Auf Basis der Preisdaten des Statistikbüros für 70 chinesische Großstädte errechnen Analysten einen Rückgang des Durchschnittspreises für Neuwohnungen von knapp 0,1%. Das ist zwar nicht viel, aber in Chinas sonst hitzigem Marktgeschehen ein höchst seltener Vorgang (siehe Grafik).

Wohlstandsversprechen

Nun wohnen zwei Seelen in der Brust chinesischer Wirtschaftsplaner. Eine Preisdämpfung und Unterbindung des rein spekulativen Erwerbs von Wohnungen, die bis zum Wiederverkauf in der Regel ungenutzt bleiben, ist ein wichtiges sozialpolitisches Anliegen der Staatsführung. Sie hat sich in diesem Jahr eine neue umverteilungspolitische Agenda unter dem Motto „Common Prosperity“ (Wohlstand für die Massen) auf die Fahnen geschrieben. Der Sache ist dann aber nicht wirklich gedient, wenn das Einkommenswachstum im Zuge einer heftigen Konjunkturabkühlung erschlafft und die Arbeitslosenrate zu steigen droht.

Noch hält man an einer trotzigen Durchhaltemaxime fest: Man muss kurzfristige Anpassungsschmerzen aushalten können, um eine „Gesundung“ des Immobilienmarktes zu erreichen und damit der Finanzstabilität und langfristigen Wirtschaftswachstumssicherung zu dienen. Das klingt vernünftig und konstruktiv, setzt aber freilich voraus, dass Pekings Wirtschaftslenker auch das dazu passende Nervenkostüm aufweisen. Wenn es um den sakrosankten Immobilienmarkt geht, war das in Chinas jüngerer Wirtschaftsgeschichte bislang nie der Fall.

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