Matthias Jung

„Scholz ist Profiteur der außenpolitischen Krise“

Die Ampel-Regierung regiert seit 100 Tagen. Mit dem Ukraine-Krieg steht die Amtszeit unter neuen Vorzeichen. Matthias Jung, Forschungsgruppe Wahlen, analysiert, wie die Regierung die Lage meistert.

„Scholz ist Profiteur der außenpolitischen Krise“

Angela Wefers.

Herr Jung, 100 Tage ist die Ampel im Amt und steht vor einer Zeitwende. Wie sieht die Bilanz aus?

Es sind sehr untypische 100 Tage. Daraus lässt sich weder Positives noch Negatives für den Fortbestand der neuen Koalition prognostizieren. Die Kurskorrektur der als Mitte-Links-Regierung gestarteten Ampel ist noch stärker Richtung Mitte forciert worden, als es zu erwarten war.

Was bedeutet das?

Alle spezifischen Alleinstellungsmerkmale der Regierungsparteien sind sehr stark abgeschliffen worden. Das galt schon für den Konsens im Koalitionsvertrag. Durch die Krise gilt es erst recht.

Alle Koalitionspartner haben sich bewegt?

Die Grünen sind weniger pazifistisch und weniger ökologisch geworden. Die FDP wird weniger neoliberal auftreten und weniger entschieden für die Schuldenbremse eintreten können. Die Sozialdemokraten haben die größten Schwierigkeiten. Sie müssen eine andere Russland-Politik und einen anderen sicherheitspolitischen Kurs einschlagen. Zusätzliche soziale Projekte werden schwerer realisierbar.

Kann eine Regierung hierzulande nur in der Mitte reüssieren?

Das ist so, auch wenn größere Teile in der Union und der SPD das nicht einsehen. Deutschland kann nur aus dem Konsens der Mitte regiert werden. Wer davon abweicht, verliert sehr schnell die Mehrheitsfähigkeit.

Wird es für die Ampel-Regierung schwierig, Mehrheiten im Bundestag zu organisieren?

Die Grünen werden weniger Schwierigkeiten haben, den strukturellen Veränderungen zu folgen, als die SPD. Die Grünen sind hochinnovativ und anpassungsfähig. Militärische Sicherheitspolitik und Energiesicherheit haben die Grünen in Windeseile synchron bekommen.

Die SPD tickt da anders?

Die SPD hat sich wiederholt schwergetan, realitätsnahe Positionen zu beziehen. Die SPD ist viel stärker ideologisch geprägt. Daran ist schon Gerhard Schröder gescheitert.

Große Teile der Bevölkerung unterstützen einen Boykott von Öl und Gas aus Russland. Sind die Deutschen bereit zu frieren?

Die Bevölkerung erwacht mit Schrecken aus vermeintlich friedlichen Zeiten. Boykottforderungen hat nicht jeder durchdekliniert. Wenn die Energiepreise steigen und der Konflikt in der Ukraine nicht gelöst wird, kann die Stimmung wieder umschlagen.

Wird die Ampel-Koalition der Belastungsprobe standhalten?

Grüne, FDP und SPD mussten große Schwierigkeiten beseitigen. Die Ampel hat – durchaus überraschend – eine Regierung der Mitte gebildet. Durch die Russland-Krise ist dies noch weiter vorangetrieben worden.

Was bedeutet das für die Opposition?

In der veränderten Weltlage vertritt die Ampel Positionen, die CDU und CSU kaum Raum lassen, sich inhaltlich abzugrenzen. AfD und Linke identifizieren sich ohnehin nicht so sehr mit der Politik des Westens und der Nato.

Zeigt Bundeskanzler Olaf Scholz Statur in der Krise?

Olaf Scholz ist Profiteur der außenpolitischen Krise. Am Anfang lief es schleppend. Erst nach dem russischen Angriff hat er klare Kante gezeigt und die Kurswende in der Außen- und Sicherheitspolitik verkündet.

Auch die Rufe „Wo ist Scholz?“ sind nun passé?

Das ist eine Frage der Kommunikation. Wenn der Kanzler nicht ausreichend sichtbar ist, weiß keiner, wo es langgehen soll. Das war bei Olaf Scholz in seinen ersten 100 Tagen öfters defizitär.

Ist der Kanzler nun ausreichend sichtbar?

Wir haben Schwierigkeiten, einzelne Themen lang genug in der politischen Debatte zu halten. Auch das Ukraine-Thema wird sich abnutzen, sofern die Lage nicht weiter eskaliert. Dann dringt wieder Corona als Thema nach vorn. Das kann der Ampel mangels Geschlossenheit Probleme bereiten.

Also hilft die aktuelle Lage der Ampel zusammenzuhalten?

Ja, natürlich. Die Ampel ist praktisch nur mit der AfD und der Linken konfrontiert. Die Union ist schwach und zahnlos. Sie bietet weder personell noch inhaltlich attraktive Alternativen. Der Konsens geht über die Regierung hinaus und gibt ihr viel Spielraum.

Die Energiepolitik muss neu überdacht werden, die Sicherheitspolitik kostet viel mehr. Werden Grüne und FDP unter Druck geraten?

Die Flexibilität der Grünen etwa in der Kohleverstromung trägt sogar zum Zusammenhalt bei. Wirtschaftsminister Robert Habeck muss es aber gelingen, ausreichend Energiereserven zu organisieren.

Wird die FDP mehr Schulden machen können, ohne politischen Schaden zu nehmen?

Die FDP wird sehr pragmatisch sein und am Schluss in einen Konsens einwilligen. Mit der außerordentlichen Lage kann man einiges rechtfertigen.

Die Glaubwürdigkeit der Ampel wird nicht leiden?

Wenn sie leidet, leidet sie daran, dass sie Probleme nicht löst: Dass wir drei Pullover im nächsten Winter anziehen müssen oder die Corona-Pandemie nicht in den Griff bekommen.

Belastet die hohe Inflation die Ampel?

Momentan registrieren die Menschen die Inflation über die Energiepreise, an der Tankstelle und beim Einkauf von Heizöl. Gefühlte Inflation kommt schnell, auch wenn sie noch nicht allumfassend real ist.

Rechnen Sie mit neuen Verteilungskämpfen?

Die Regierung kann nicht gleichzeitig mehr in die Energiewende, die Infrastruktur und in die Verteidigung investieren – und noch Steuern für die kalte Progression senken. Da wird es Abstriche geben müssen.

Muss die Ampel also Sozialausgaben erhöhen, um politisch zu überleben?

Das ist nötig, damit das politische System überlebt. Höhere Energiekosten können schlechter gestellte Haushalte nur bedingt schultern. Ein paar Cent bei der Pendlerpauschale oder etwas Heizkostenzuschuss reichen nicht aus.

Das Interview führte

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