Stagflationäre Tendenzen in Euroland
ms Frankfurt
Deutlich weniger Wirtschaftswachstum, aber zugleich sehr viel mehr Inflation – auf diese Formel lassen sich die neuen Prognosen der Experten zur Euro-Wirtschaft im Jahr 2023 im aktuellen Konjunkturtableau der Börsen-Zeitung und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) bringen. Für das kommende Jahr haben sie ihre Wachstumsprognose von zuvor 2,3% auf 1,6% deutlich nach unten geschraubt. Ihre Inflationsvorhersage haben sie erneut deutlich erhöht – um 1 Prozentpunkt von zuvor 2,7% auf 3,7%.
Die neuen Prognosen schüren damit Sorgen vor einem Stagflationsszenario in der Währungsunion – also einem Zustand mit wenig bis keinem Wachstum und hoher Inflation. Dagegen signalisieren die neuen Schätzungen keine Rezession im Euroraum, wie sie zunehmend mehr Beobachter befürchten. Im zweiten Quartal war die Euro-Wirtschaft überraschend stark um 0,7% gewachsen. Zuletzt hatte es aber eine ganze Reihe schwächerer Konjunktursignale gegeben. Vor allem der Ukraine-Krieg lastet auf der wirtschaftlichen Aktivität.
Für die Europäische Zentralbank (EZB) wird die Situation in jedem Fall immer schwieriger: Einerseits erfordert die hartnäckig hohe Inflation eine spürbare geldpolitische Straffung. Im Juli hatte der EZB-Rat erstmals seit elf Jahren seine Leitzinsen erhöht und weitere Anhebungen avisiert. Andererseits verliert die Euro-Wirtschaft zunehmend an Dynamik, und viele Beobachter warnen, dass zu stark steigende Zinsen der Wirtschaft komplett den Garaus machen könnten. An den Finanzmärkten werden die Zinserwartungen mit Blick auf die EZB bereits deutlich heruntergeschraubt.
Für das laufende Jahr erwarten die Experten ein Wachstum der Euro-Wirtschaft von 2,7%. Die neuen Prognosen decken sich damit weitgehend mit den jüngsten Einschätzungen der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Für die deutsche Wirtschaft sehen die Experten für 2022 nun noch 1,7% Wachstum (zuvor: 2,1%). Für 2023 sinkt die Prognose von 2,5% auf jetzt 2,1%.
Besonders bemerkenswert sind die großen Prognosespannen. Für 2023 beispielsweise liegt die niedrigste Schätzung für das Euro-Wachstum bei −0,3% und die höchste bei 2,9%. Darin kommt auch die extrem große Unsicherheit über den Konjunkturausblick zum Ausdruck. Insbesondere die drohende Energiekrise infolge des Ukraine-Kriegs schwebt wie ein Damoklesschwert über der Euro-Wirtschaft.
Zugleich befeuert der Krieg die ohnehin hohe Inflation. Die Experten haben ihre Inflationsprognosen sowohl für den Euroraum als auch für Deutschland deutlich angehoben. Für das Eurogebiet beträgt die Inflationsprognose für 2022 jetzt 7,5% – nach zuvor 6,8% – und für Deutschland 7,0% – nach zuvor 6,5%. Nach wie vor nach rechnen die Prognostiker für das nächste Jahr mit einem starken Rückgang der Inflation. Allerdings sind sie weniger zuversichtlich hinsichtlich des Ausmaßes, wie die deutliche Prognoseanhebung zeigt. Die jetzt für das Eurogebiet und für Deutschland prognostizierten 3,7% liegen weit oberhalb des EZB-Zielwerts von 2,0%. „Die Zeit für zögerliche Zinserhöhungen ist somit zu Ende“, schreibt ZEW-Experte Michael Schröder im Kommentar zum neuen Konjunkturtableau.
Aus diesem Grund gingen auch die Zinsprognosen erheblich weiter nach oben, so Schröder. Für das laufende Jahr sehen die Expertinnen zwar nur noch einen leichten Anstieg auf 0,4%. 2023 sollen die kurzfristigen Zinsen aber im Median auf ungefähr 1,5% steigen. Dies entspricht von heute aus gesehen einem Anstieg um 125 Basispunkte. Auch die langfristigen Zinsen sollen weiter ansteigen, auf 1,5% (zuvor: 1,2% ) in diesem Jahr und 1,7% (zuvor: 1,4%) im kommenden Jahr. Trotz dieser erwarteten Zinsanstiege bleiben allerdings die implizit prognostizierten Realzinsen in beiden Jahren weit im negativen Bereich. „Die Zinsprognosen zeigen außerdem, dass der Zinsabstand zwischen Eurogebiet und USA 2023 geringer werden sollte, was zu einer Stützung des Euro-Kurses führt“, so ZEW-Experte Schröder.
Konjunkturtableau Eurozone | ||||||||||
1. Quartal | 2. Quartal | Prognose 2022 | Prognose 2023 | |||||||
2020 | 2021 | 2022 | 2022 | Tief | Median | Hoch | Tief | Median | Hoch | |
Volkswirtschaftliche Daten | ||||||||||
Bruttoinlandsprodukt1 | −6,6 | 5,3 | 0,6 | 0,7 | 0,4 | 2,7 | 3,4 | −0,3 | 1,6 | 2,9 |
Privatkonsum1 | −8,0 | 3,5 | −0,7 | – | 2,6 | 3,1 | 4,3 | 1,5 | 2,0 | 2,5 |
Staatskonsum1 | 1,2 | 3,8 | −0,3 | – | 0,6 | 1,1 | 2,0 | −0,5 | 1,0 | 2,6 |
Anlageinvestitionen1 | −8,3 | 4,3 | 0,1 | – | 2,1 | 3,0 | 4,8 | 2,1 | 3,1 | 4,1 |
Exporte1 | −9,4 | 10,9 | 0,4 | – | 0,0 | 4,9 | 6,3 | 0,0 | 4,0 | 4,2 |
Importe1 | −9,2 | 8,7 | −0,6 | – | 0,0 | 4,9 | 6,7 | 0,0 | 3,4 | 3,6 |
letzter Wert | ||||||||||
Verbraucherpreise2 | 0,3 | 3,1 | 8,9 (Juli) | 5,5 | 7,5 | 8,0 | 2,1 | 3,7 | 5,5 | |
Arbeitslosenquote3 | 7,8 | 7,7 | 6,6 (Juni) | 6,1 | 6,8 | 7,7 | 5,8 | 6,7 | 6,8 | |
Zinsen und Zinsdifferenzen | In 3 Monaten | In 12 Monaten | ||||||||
3-Monats-Geld3 | −0,43 | −0,55 | 0,25 | −0,2 | 0,4 | 1,4 | 0,7 | 1,47 | 2,2 | |
10-jährige Anleihen3 | −0,51 | −0,37 | 0,78 | 1,0 | 1,5 | 2,4 | 1,2 | 1,7 | 2,8 | |
USA/Eurozone, langfristig3,4 | 140 | 181 | 185 | 150 | 181 | 210 | 110 | 150 | 170 | |
USA/Eurozone, kurzfristig3,4 | 108 | 71 | 256 | 175 | 282 | 307 | 120 | 176 | 240 | |
Eurozone lang/kurz3,4 | −8 | 18 | 53 | 10 | 106 | 190 | −60 | 15 | 150 | |
Redaktionsschluss: 2. August; Tagesdaten vom 1. August.1) real gegen Vorjahr bzw. Vorquartal in %; 2) gegen Vorjahr in %; 3) Werte für 2020 und 2021 sind Jahresdurchschnitte, letzte Werte der Zinsen und Zinsdifferenzen sind Stände vom Vortag; 4) in Basispunkten |