Lockere EZB-Geldpolitik

Umstrittene Wirksamkeit mit Risiken und Neben­wirkungen

Die lange Phase von Niedrigzinsen und Billionen-Anleihekäufen geht zu Ende. Die EZB hebt positive Impulse hervor, muss sich aber etlicher Vorwürfe erwehren.

Umstrittene Wirksamkeit mit Risiken und Neben­wirkungen

Von Mark Schrörs und Stefan Reccius, Frankfurt

Haben die jahrelangen Null- und Negativzinsen sowie billionenschweren Anleihekäufe mehr Nutzen als Schaden gebracht? Das ist die Gretchenfrage, wenn es um die Bilanz eines Jahrzehnts im geldpolitischen Ausnahmezustand geht. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus – je nachdem, wer antwortet und welcher Aspekt bei der Betrachtung im Vordergrund steht.

Naturgemäß ist die EZB von dem positiven Effekt der ultralockeren Geldpolitik auf die Euro-Wirtschaft überzeugt. In ihrem Wirtschaftsbericht 2/2019 verweist sie auf Berechnungen des Eurosystems, wonach sich der Gesamteffekt der seit Mitte 2014 ergriffenen geldpolitischen Maßnahmen für die Jahre 2016 bis 2020 auf kumuliert 1,9 Prozentpunkte sowohl bei der Inflation als auch beim Wachstum beläuft. Den stärksten Effekt habe es in den Jahren 2016 und 2017 gegeben. Im Juni 2014 hatte die EZB ihren Einlagenzins erstmals unter null gesenkt und im Frühjahr 2015 mit dem breit angelegten Kauf von Anleihen, vor allem Staatsanleihen, begonnen (APP-Programm).

Im März dieses Jahres nun erklärte EZB-Chefvolkswirt Philip Lane in einer Rede, dass die EZB-Maßnahmen seit März 2020, also vor allem das damals aufgelegte Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP, ebenfalls einen sehr starken und positiven Effekt gehabt hätten. Eine von Experten der EZB durchgeführte Analyse komme zu dem Schluss, dass ohne die geldpolitischen Maßnahmen seit März 2020 die Produktion im Euroraum bis 2023 kumuliert um 1,8 Prozentpunkte und die jährliche Inflationsrate um 1,2 Prozentpunkte niedriger ausfallen würde. Die Inflation liegt allerdings derzeit auf dem Rekordniveau von 8,6% und dürfte auch 2023 das EZB-Ziel von 2,0% deutlich übertreffen.

Tatsächlich ist die Bilanz insbesondere auch bei den breiten Anleihekäufen (Quantitative Easing, QE) durchaus umstritten. Andere Studien kommen teils zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen – von sehr starken, positiven Effekten bis hin zu vernachlässigbaren Impulsen reicht die Palette. Zwar ist vielfach wenig umstritten, dass die Anleihekäufe die Renditen von Euro-Staatsanleihen und anderen Wertpapieren deutlich gesenkt und die Vermögenspreise befeuert haben. Die Kreditzinsen im Euroraum wurden teils auf historische Tiefststände gedrückt. Zudem haben die breiten Anleihekäufe den Euro abwerten lassen. Was die realwirtschaftlichen Effekte von QE betrifft, insbesondere auf die Inflation, ist die empirische Evidenz aber weniger eindeutig.

Die Bundesbank hatte bereits im Juni 2016 mit einer Analyse zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen des ursprünglichen QE-Programms für Aufsehen gesorgt. Die zentrale Botschaft war, dass der Effekt für sich genommen sehr unsicher sei, weil er stark vom gewählten Modell abhänge. Für 2017 etwa lag die ermittelte Spanne der QE-Wirkung auf die Inflation zwischen 0,1 und 2,5 Prozentpunkten. Das relativiert die punktgenauen Schätzungen der EZB zum QE-Effekt. Eine andere Botschaft schließlich war, dass auch die unerwünschten Nebenwirkungen zu berücksichtigen seien.

Sorgen um Finanzstabilität

Es sind insbesondere diese Nebenwirkungen und Risiken, welche die Kritiker höher gewichten als die QE-Befürworter: Da sind zum einen Fehlanreize für die Staaten mit Blick auf die nötige Haushaltskonsolidierung und Reformen. Die EZB sieht sich seit jeher dem Vorwurf ausgesetzt, mit ihren Anleihekäufen die Grenze zu verbotener monetärer Staatsfinanzierung zu überschreiten und die Finanzierungskosten vor allem hoch verschuldeter Staaten wie Italien künstlich niedrig zu halten. Das ist immer wieder Gegenstand von Kontroversen – und in Deutschland sogar von mehreren Gerichtsverfahren (siehe Text oben auf dieser Seite).

Zum anderen wachsen die Sorgen um die Folgen der ultralockeren Geldpolitik für die Finanzstabilität. Auch die Zentralbank der Zentralbanken BIZ hat die Währungshüter weltweit immer wieder davor gewarnt, mit einer sehr lange sehr lockeren Politik selbst die Grundlage für die nächste Weltfinanzkrise zu legen. Warnhinweise sendet für Kritiker seit Jahren der Immobilienmarkt. Die EZB, so der Vorwurf, leiste mit ihrer Dauerniedrigzinspolitik Übertreibungen am Immobilienmarkt Vorschub. Böse Erinnerungen an 2007 und 2008 schwingen mit.

Analysen der Bundesbank schüren Sorgen vor einer Blasenbildung: Immobilien in Städten seien im vergangenen Jahr bis zu 40% überteuert gewesen, berichteten die Bundesbank-Ökonomen im Frühjahr. 2020 waren es laut Bundesbank noch maximal 30% zu viel gewesen. Im ersten Halbjahr 2022 lagen die Preissteigerungen nach offiziellen Daten weiter jenseits von 10%.

Immer wieder für Kritik sorgt, dass die EZB die Wohnkosten bislang nicht hinreichend in der Geldpolitik berücksichtigt. Hintergrund: Nur Mietkosten fließen in die vom Statistikamt Eurostat ermittelte Inflationsrate ein, selbst genutztes Wohneigentum hingegen nicht. Das soll sich nach dem Willen des EZB-Rats ändern, benötigt aber Zeit. Schätzungen zufolge hätte die Inflationsrate in den vergangenen Jahren einige Zehntelprozentpunkte höher gelegen, Tendenz steigend.

Rabatte versus Strafzinsen

Mit Sorge verweisen Kritiker auf das phasenweise zweistellige Wachstum der Geldmenge. Das hat nicht zuletzt mit der Fülle an Liquidität zu tun, die die EZB ins Bankensystem gepumpt hat. Sie hat den Banken als Mittlern ihrer Geldpolitik während der Coronakrise quasi unbegrenzt Liquidität mit Rabatten bereitgestellt, wenn die ihre Kreditvergabe aufrechterhalten. Viele Banken haben davon üppig Gebrauch gemacht. Dagegen schimpfen Bankenvertreter über den negativen Einlagezins als „Strafzins“ – ein Begriff, der bei der EZB auf dem Index steht.

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