Großbritannien

„Und wann kommen die Heuschrecken?“

Der britische Notenbankchef hat noch einmal die Möglichkeit einer baldigen Leitzinserhöhung betont. Die Angebotsengpässe nehmen zu. Im Berufsverkehr bildeten sich erneut Schlangen vor den Tankstellen.

„Und wann kommen die Heuschrecken?“

Von Andreas Hippin, London

Der Gouverneur der Bank of England, Andrew Bailey, hat trotz zu­nehmender Versorgungsengpässe immer noch Zeit für einen Scherz. „Und wann kommen die Heuschrecken?“, habe er fragen wollen, als man ihm vom mangelnden Wind für die Stromerzeugung berichtet habe. So erzählte er es beim Dinner der ehrwürdigen Society of Professional Economists. Interessanter war allerdings, dass er dort noch einmal die Möglichkeit einer baldigen Leitzinserhöhung betonte. „Alle von uns glauben, dass eine moderate Straffung der Geldpolitik notwendig sein wird, um das Inflationsziel mittelfristig nachhaltig zu erreichen“, sagte er. Die jüngsten Daten schienen das zu bestätigen, es gebe aber noch große Ungewissheit. Man beobachte die Situation genau. Schon auf der jüngsten Sitzung des geldpolitischen Komitees zeichnete sich der Einstieg in den Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik ab, die von der Notenbank seit der Finanzkrise betrieben wird. Man sei sich einig, dass ein solcher Schritt in Form einer Leitzinserhöhung erfolgen sollte, hieß es vergangene Woche (vgl. BZ vom 23. September).

„Die Zahl der Angebotsengpässe, die große Beachtung finden, nimmt anscheinend zu“, sagte Bailey am Montagabend den versammelten Volkswirten. Am Dienstag bildeten sich im morgendlichen Berufsverkehr erneut lange Schlangen vor manchen Tankstellen. Aus dem ganzen Land wurde über durch Rückstaus ausgelöste Unfälle und tätliche Auseinandersetzungen an Zapfsäulen berichtet. Die mediale Berichterstattung hatte die Angst vieler Berufspendler, plötzlich auf dem Trockenen zu sitzen, noch verstärkt. Wenn jeder SUV-Besitzer seinen oft mehr als 70 Liter fassenden Tank vorbeugend füllen will, sind auch frisch belieferte Tankstellen schnell leergekauft.

Soldaten als Lkw-Fahrer

Die großen Ölkonzerne hatten die Bevölkerung bereits gebeten, Panikkäufe zu unterlassen. Es gebe ausreichend Kraftstoff. Doch fehlt es an Lkw-Fahrern, um den Sprit auszuliefern. Die Regierung erwägt unter dem Titel „Operation Escalin“, Hunderte Soldaten als Tankwagenfahrer einzusetzen. Sie hatte bereits Teile des Wettbewerbsrechts ausgesetzt, um Tankstellenbetreibern zu ermöglichen, sich gegenseitig über ihre Situation zu informieren und verfügbare Ressourcen gemeinsam zu nutzen. Es gibt auch noch eine Reserveflotte von Tanklastzügen des Wirtschaftsministeriums, die eingesetzt werden könnten.

Für den ehemaligen EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier ist die Situation an den Zapfsäulen und in den Supermärkten, wo manche Regale nicht nachgefüllt werden können, eine „direkte Konsequenz“ des britischen EU-Austritts. Tatsächlich sind Lkw-Fahrer aus der Staatengemeinschaft in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Allerdings suchte die Branche schon vor dem Brexit händeringend nach Fahrern. Niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen hatten dafür gesorgt, dass sich nicht mehr viele Menschen für den einst recht beliebten Beruf Trucker erwärmen konnten. Während der Pandemie fielen auch noch zahl­reiche Lkw-Führerscheinprüfungen aus, viele ältere Fahrer gingen in den Ruhestand. Nun werden vermut­lich Militärangehörige Lkw-Führerscheinprüfungen abnehmen, um den Rückstand abzuarbeiten.

Doch es fehlt nicht nur an Sprit. Auch beim Erdgas droht Knappheit. Wie Sam Laidlaw, der Executive Chairman von Neptune Energy, in einem Gastbeitrag für den „Telegraph“ ausführt, gäbe es dafür jedoch eine vergleichsweise einfache Lösung. Großbritannien gehöre zu den westeuropäischen Ländern mit den strengsten Spezifizierungen für Erdgas. Es müsse einen sehr hohen kalorischen Brennwert aufweisen. Würden die Vorgaben den Regeln anderer europäischer Länder angepasst, könne man aus der südlichen Nordsee ausreichend Gas einspeisen, um 12 Millionen Haushalte ein Jahr lang zu beheizen. Die Arbeitsschutzbehörde HSE habe dies bereits technisch geprüft. Die Umstellung könne also umgehend erfolgen. Neptune Energy verfolgt mit diesem Vorschlag natürlich Eigeninteressen. Wenn es keine andere Lösung geben sollte, könnten sie sich allerdings schon bald mit dem Interesse der Allgemeinheit decken.