Forward Guidance

Was nun, Kolleginnen und Kollegen der EZB?

Die EZB hält den aktuellen Inflationsanstieg für temporär und will deshalb nichts wissen von einer Abkehr von ihrer ultralockeren Geldpolitik. Ex-EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark widerspricht – und warnt.

Was nun, Kolleginnen und Kollegen der EZB?

Läuft der EZB-Rat zum zweiten Mal Gefahr, seine Politik mit einer Fehldiagnose zu begründen? Nach dem 2014 völlig überschätzten Risiko einer Deflation besteht nun die Ge­fahr, die Dauer des aktuellen Preisauftriebs zu unterschätzen. Die Inflation ist zurück, daran besteht kein Zweifel. Im August stieg sie im Euroraum voraussichtlich auf 3%, nach 2,2% im Juli. In Deutschland wurde mit 3,9% die höchste Rate seit fast drei Jahrzehnten erreicht. Und die Bundesbankvolkswirte gehen von einer weiteren Steigerung auf bis zu 5% zum Ende des Jahres aus. Die entscheidende Frage ist aber, ob das – so die Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) – ein rein temporäres Phänomen ist oder ob man mit einer längeren Phase höherer Inflationsraten rechnen muss.

Die Juni-Projektionen des EZB-Mitarbeiterstabs zeigen im Vergleich zu 2021 für 2022 und 2023 mit einer Preissteigerungsrate von 1,5% bzw. 1,4% einen Rückgang an. Die Inflation würde dann weiter deutlich un­ter dem neuen EZB-Punktziel von 2% liegen. In den offiziellen Kommentaren wird auf temporäre Sonderfaktoren für den derzeitigen Preis­auftrieb hingewiesen. Dazu ge­hören z.B. die Wiedererhöhung des Mehr­wertsteuersatzes in Deutschland nach der unnötigen pandemiebedingten Absenkung im zweiten Halbjahr 2020, der Anstieg der Rohstoffpreise und Preissteigerungen infolge von Lieferengpässen wegen gestörter Produktionsketten. Temporäre Elemente spielen ohne Zweifel eine Rolle. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Gibt es nicht auch strukturelle Faktoren, die für eine längere Phase höherer Inflation sprechen?

Doppelt bestraft

Die Diagnose einer vorübergehend höheren Inflation veranlasste den EZB-Rat, seine ultraexpansive Politik nicht nur fortzusetzen, sondern sich im Rahmen seiner „Forward Guidance“ für weitere Jahre auf Null- oder Negativzinsen festzulegen. Es geht dabei ja seit langem nicht mehr um den Hauptrefinanzierungssatz als Leitzins, sondern um den negativen Einlagensatz. Da die Banken zunehmend die von der EZB verlangten Negativzinsen von ihren Kunden einfordern, werden risikoaverse Anleger und Sparer durch Negativzinsen auf ihre Sichteinlagen und die höhere Inflationsrate doppelt bestraft. Dem können sie sich nur entziehen, wenn sie Bargeld horten oder ihre liquiden Mittel in bereits überbewertete Vermögenswerte investieren. Sie gehen dabei Risiken ein, die viele von ihnen überhaupt nicht einschätzen können. Mit anderen Worten: Die EZB treibt Anleger in hohe Risiken, die im Falle einer wahrscheinlich abrupten Marktkorrektur ein enormes Rückschlagpotenzial darstellen – sowohl für die Anleger als auch für das Marktgeschehen generell.

Die Fortsetzung und weitere Verschärfung der ultraexpansiven Geldpolitik hilft in erster Linie den Schuldnern und dabei insbesondere den hoch verschuldeten Regierungen des Euroraums. Deren Zinslast, gemessen in Prozent der Wirtschaftsleistung, sinkt trotz explodierender öffentlicher Schulden und verstärkt damit den Anreiz, die Verschuldung ohne steigendes Insolvenzrisiko weiter zu erhöhen, da der Markt durch die EZB-Interventionen ausgeschaltet ist. Setzt die EZB ihre Staatsanleihenkäufe unvermindert fort, wird sie bis Ende 2021 volumenmäßig alle Neuemissionen der Euro-Mitgliedstaaten aufgekauft haben.

Aber offenbar denkt man trotz ansteigender Inflation sogar über eine weitere Erhöhung oder eine Verlängerung der Anleihenkäufe nach. Denn durch „Forward Guidance“ kann auch bei diesem Kriseninstrument eine entsprechende Orientierung an Märkte und Regierungen gegeben werden. Die EZB bleibt also unbeeindruckt und unbeirrt auf beschleunigtem Expansionskurs und verengt ihren Blick auf die Refinanzierungsbedingungen insbesondere hoch verschuldeter Regierungen.

Es ist offensichtlich so, dass der EZB-Rat das Risiko einer längeren Inflationsphase im Vertrauen auf die Realitätsnähe der Stabsprojektionen als sehr gering einschätzt. Aber diese modellbasierten Projektionen sind gerade im heutigen Umfeld mit noch mehr Unsicherheit und Risiken behaftet als in normalen Zeiten. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, die projizierten Inflationsraten 2022 und 2023 treffgenau zu erreichen. Deshalb darf die derzeitige Situation nicht dazu führen, durch die für kurz gehaltene Phase höherer Inflation einfach hindurchschauen zu wollen. Zwar scheinen die Inflationserwartungen noch gut auf niedrigem Niveau verankert zu sein und Anzeichen signifikanter Zweitrundeneffekte gibt es – noch – nicht. Das kann sich jedoch schneller ändern, als die EZB das für möglich hält. Es bedarf besonderer Wachsamkeit, Trendveränderungen rasch zu erkennen und bei sich verhärtender Evidenz eines fortbestehenden Preisauftriebs zu handeln.

Geldmengen beachten

Die Entwicklung der Geldmenge darf dabei nicht außer Acht bleiben. Es ist bezeichnend, dass die EZB in ihrer revidierten Strategie der M3-Entwicklung nur noch geringe Beachtung zu schenken scheint und stattdessen von den monetären Aggregaten abgeleitete Finanzindikatoren für die Finanzstabilitätsanalyse nutzen will. Letzteres ist willkommen und geht auf EZB-interne Vorarbeiten aus dem Jahr 2010 zurück. Aber gerade in einer Phase rasanter Geldmengenexpansion im Euroraum und mehr noch in den USA darf die Analyse der langfristigen Folgen der Ausweitung der Geldmenge für die Preisstabilität nicht ignoriert werden.

Strukturelle Veränderungen

Hinzu kommen sich abzeichnende strukturelle Veränderungen, die in die Analyse und Bewertung einbezogen werden müssen. Die möglicherweise gegenläufigen Folgen der Klimaschutzpolitik und der Digitalisierung für die Entwicklung des Preisniveaus hat die EZB auf dem Radarschirm. Allerdings versteht sie sich heute insbesondere beim Klimaschutz als aktiv handelnder Akteur, anstatt ihre Rolle in der Analyse der Auswirkungen von Klimaveränderung und Klimaschutzpolitik auf das Preisniveau im Rahmen ihres Kernmandats begrenzt zu sehen.

Andere strukturelle Veränderungen verdienen besondere Beachtung. Die EZB erklärt die beharrlich (zu?) niedrigen Inflationsraten der vergangenen Jahre und niedrige Zinsen u.a. mit den demografischen Entwicklungen und der Globalisierung. Das ist sicher richtig, aber vergangenheitsbezogen. Demografie und Globalisierung haben sowohl die Preissetzungsmacht der Unternehmen als auch die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften über viele Jahre ge­schwächt. Das hat zu disinflationären Prozessen und auch zu niedrigeren Zinsen geführt. Inzwischen gibt es aber Anzeichen dafür, dass sich diese Prozesse umkehren, wie der britische Ökonom Charles Goodhart überzeugend analysiert hat. Das erfolgt nicht schlagartig, sondern graduell. Mit der Umkehr dieser Trends steigt nun u.a. auch die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wieder, was in einer Lohn-Preis-Spirale enden kann. Auch die Rückverlagerung von Teilen der Produktion aus Niedriglohnländern nach Europa und das neue protektionistische Ziel der EU einer „strategischen Autonomie“ führt zu höherer Inflation. Deshalb ist Goodhart zuzustimmen, dass „lower for longer“ nicht durchhaltbar sein wird, sondern die anspringende Inflation ein Gegensteuern erfordert.

Aber die Gefahr bleibt bestehen, dass die EZB wegen einer unvollkommenen Analyse, einer fehlerhaften Diagnose und im fast blinden Vertrauen auf die Treffsicherheit der Stabsprojektionen die Risiken für die Preisstabilität unterschätzt und sie ihre ultraexpansive Politik nach dem Motto „lower and more for longer“ fortsetzt. Die negativen Nebeneffekte bleiben dabei außer Acht und die von der EZB vermutete positive Wirkung dieser Politik auf Wachstum und Inflation wird außerhalb der Zentralbank-Community seit langem bezweifelt. Oder macht es Sinn, Billionen Euro zu schaffen, um vielleicht eine um ein Zehntel höhere Inflationsrate zu generieren?

Von Japan abgesehen, wo die Bedingungen völlig andere sind, betreibt keine Zentralbank der größeren fortgeschrittenen Volkswirtschaften eine derart expansive Politik wie die EZB. Weder die US-Notenbank Fed noch die Bank of England haben den riskanten Schritt zu negativen Nominalzinsen gewagt. Die Geldpolitik der EZB ist und bleibt auch ohne Negativzinsen extrem locker.

Zeit für den Ausstieg

Es ist längst Zeit für ein Umdenken, ehe die Inflation noch weiter steigt und droht nicht mehr be­herrsch­bar zu werden. Ein zu spätes Handeln der EZB hätte dramatische Folgen und könnte in einer neuen Rezession en­den. Das Gegenargument, ein Kurswechsel jetzt würde die Konjunktur abschwächen, ist, wie schon in der Vergangenheit, nicht stichhaltig. Die EZB sollte weder ihr Anleihen-Ankaufprogramm volumenmäßig erhöhen noch zeitlich weiter ausdehnen, sondern den vorsichtigen Ausstieg signalisieren, wie das die Fed diskutiert. Damit könnte sich die EZB langsam aus der Finanz- und Fiskaldominanz lösen. Die Phase der Negativzinsen ist rasch zu beenden. Negativzinsen sind unnötig und kontraproduktiv. Sie sind schädlich für das Finanzsystem, die Sparer und für unsere marktwirtschaftliche Ordnung.

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