Wie sich die Eurohüter in Stellung bringen
Gegen Ende seines einstündigen Auftritts an der Frankfurter Goethe-Universität entspannen sich die Gesichtszüge von Fabio Panetta für einige Sekunden. Das sei doch das Schöne daran, in einem Raum mit Akademikern über die Geldpolitik zu sprechen, lässt das Mitglied des sechsköpfigen EZB-Direktoriums durchblicken: Dass es um die großen Linien geht, „nicht um 25 oder 50 Basispunkte“ beim Leitzins. Dabei geht es natürlich genau darum, wenn Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB) dieser Tage vor ein Mikrofon treten – das weiß auch Panetta.
Der Italiener und seine Kollegen sind gewöhnt, dass Markteilnehmer auf jeden Zwischenton achten. Momentan sind die Analysten angesichts der rekordhohen Inflation besonders penibel: Wann erhöht die EZB den Leitzins zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren – im Juli (mit hoher Wahrscheinlichkeit: ja) oder doch schon im Juni (mutmaßlich: nein)? Wie stark: um die üblichen 25 Basispunkte (mit gewisser Wahrscheinlichkeit: ja) oder, nach dem Vorbild der US-Notenbank Fed, gleich um die doppelte Dosis (eher: nein)? Wie viele Zinserhöhungen werden folgen, in welchem Tempo – und was wird aus dem billionenschweren Bestand an Anleihen (wer weiß)?
Lagarde sorgt für Streit
Die Bühnen könnten verschiedener kaum sein, der Plot ist immer derselbe: Wenige Wochen vor der bedeutendsten EZB-Ratssitzung seit Langem ist unter den Euro-Notenbankern der verbale Kampf um die Deutungshoheit in Sachen Inflation und Zinserhöhungen offen entbrannt. Alle, die im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) Rang und Namen haben, bringen sich in Stellung.
Allein die Dramaturgie dieser Woche liefert Stoff für ganze Seminarreihen in Sachen Notenbankkommunikation: Die Ouvertüre lieferte EZB-Chefin Christine Lagarde höchst selbst mit einem außergewöhnlichen Blog-Beitrag, in dem sie gleich mehrere Zinsentscheidungen vorexerzierte. Tags darauf warnte Lagarde vor den TV-Kameras von Bloomberg vor Panik. Am Mittwoch ließ sie sich am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos für eine Botschaft im Kurznachrichtendienst Twitter mit dem niederländischen Zentralbankchef Klaas Knot ablichten. Wörtlich schrieb Lagarde: „It was really good to catch up“. Schön, auf den neuesten Stand zu kommen.
Tatsächlich kommen Beobachter kaum hinterher. Denn Widerspruch zu Lagardes Vorpreschen von der Spitze ist bereits aktenkundig. Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann protestierte in einem Zeitungsinterview. Auch den Niederländer Knot weiß Lagarde eher nicht auf ihrer Seite. Knot, der wie Holzmann allenthalben im Lager der geldpolitischen Hardliner verortet wird, hatte als Erster eine Zinserhöhung um 50 Basispunkte ins Spiel gebracht – was Lagarde offenbar nicht gutheißt.
Die EZB und der neutrale Zins
Einerseits sprang Fabio Panetta seiner Chefin am Mittwoch zur Seite. Es müsse nun darum gehen, die geldpolitische Unterstützung „graduell“ und in kleinen Schritten zurückzufahren. Bloß nichts überstürzen: Diese Devise zog sich wie ein roter Faden durch Panettas Rede, die er auf Einladung des auf die Finanzmärkte spezialisierten Leibniz-Instituts SAFE auf dem Campus Westend hielt.
Entschieden argumentierte Panetta dagegen, parallel zur Zinswende die EZB-Bilanz zu schrumpfen. Das würde bedeuten, auslaufende Anleihen, die EZB und nationale Notenbanken im Rahmen der Kaufprogramme APP und PEPP erworben haben, nicht länger zu ersetzen. Panetta ist strikt gegen einen solchen Beschluss. Er spricht sich damit auch klar gegen das Vorgehen der US-Notenbank Fed aus. Als ausgemachte Sache gilt nur, dass ab spätestens Anfang Juli netto keine Anleihen mehr hinzukommen.
In einem anderen Punkt ging Panetta indirekt auf Distanz zu hochrangigen Euro-Notenbankern und auch EZB-Chefin Lagarde. Er kritisierte den verbreiteten Ansatz, den sogenannten neutralen Zins zum Maßstab für Zinserhöhungen zu machen. Dieser gilt als Richtwert für eine Geldpolitik, die die Wirtschaft weder anschiebt noch bremst. Allerdings handelt es sich beim neutralen Zins bloß um grobe Schätzungen. Panetta riet daher davon ab, die geldpolitische Normalisierung am neutralen Zins auszurichten. Ein Thema für Feinschmecker – also eines, das auf der Bühne auf dem Uni-Campus Westend am Mittwochmorgen vergleichsweise viel Anklang gefunden hat.