„Wir werden Zuwanderung brauchen“
Mark Schrörs.
Frau Professorin Grimm, der Arbeitsmarkt zeigt sich von der Rezessionsgefahr noch recht unbeeindruckt. Bleibt das so oder droht noch großes Ungemach?
Der Arbeitsmarkt ist aktuell trotz der konjunkturellen Eintrübung noch robust. Die Arbeitslosenquote lag im Juli mit 5,2% etwas niedriger als im Juli 2021 (5,6%). Der Beschäftigungsstand lag im Juni leicht über dem Vorkrisenniveau. Allerdings trübt sich die Lage etwas ein. In Wirtschaftsbereichen wie der Elektro- und Autoindustrie gibt es Fachkräfteengpässe. In anderen Bereichen wie im Gastgewerbe werden Neueinstellungen zurückgefahren.
Die Bundesagentur für Arbeit spricht von einer „kompletten Entkopplung von Konjunktur und Arbeitsmarkt“. Wie sehen Sie das?
In der Coronakrise wurde die Kurzarbeit genutzt, um die Bindung der Arbeitnehmer an die Betriebe zu erhalten, daher gab es keinen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Gegensatz zur Coronakrise wird der Krieg in der Ukraine aber zu bleibenden Veränderungen führen – in Europa etwa durch hohe Energiepreise, die den Strukturwandel beschleunigen. Das wird Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Da der Fachkräftemangel sich auf allen Ebenen verstärken wird, dürfte Arbeitslosigkeit nicht so sehr das Problem sein. Aber die Menschen werden sich beruflich verändern müssen, das birgt unzählige Herausforderungen.
Die Sorge vor einer Lohn-Preis-Spirale wächst derzeit. Für wie groß halten Sie diese Gefahr?
Es ist angesichts von Inflation, Fachkräfteengpässen und der Mindestlohnerhöhung von einer steigenden Lohndynamik auszugehen. Die Löhne stiegen im ersten Quartal bereits um 4,0%, nach 1,0% im Schlussquartal 2021. Es ist klar, dass die Arbeitnehmer für den Reallohnverlust kompensiert werden wollen. Das ist auch richtig so. Für die Höhe der Tarifabschlüsse werden unter anderem die Inflationserwartungen eine Rolle spielen. Je geringer das Vertrauen, dass die EZB die Inflation einbremsen kann, desto höher werden die Lohnforderungen ausfallen. Durch die Straffung der Geldpolitik, die nun stattfindet, dürfte das Risiko zuletzt aber abgenommen haben.
Zugleich verschärft sich der Fachkräftemangel. Wie lässt sich dieses Problem lösen?
Was wir erleben, ist erst der Anfang. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen, wird der Druck noch deutlich zunehmen. Es muss gelingen, die Lebensarbeitszeit zu erhöhen und die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu stärken. Außerdem werden wir Zuwanderung brauchen. Da die demografische Entwicklung in europäischen Staaten ähnlich ist, wird die Zuwanderung aus Staaten außerhalb der EU kommen müssen. Wichtig ist, dass wir unser Bildungssystem und die Kinderbetreuung verbessern, das schafft nicht nur Chancen für junge Menschen, sondern macht es für Frauen und Zuwanderer auch attraktiver, hier zu arbeiten.
Zuletzt haben Wirtschaftsvertreter eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden ins Spiel gebracht. Wäre das sinnvoll?
Das kann einen Beitrag leisten, wird aber nicht reichen. Um die Tragfähigkeit der Rentenversicherung gewährleisten zu können, muss auch das Rentenalter an die fernere Lebenserwartung gekoppelt werden. Das betonen die Experten seit Jahren.
Zugleich wird wieder verstärkt auch über die Einführung einer Viertagewoche gesprochen. Was denken Sie darüber?
Das würde den Fachkräftemangel natürlich verstärken. Ich denke, die Arbeitgeber werden die Arbeit für die Menschen attraktiv machen müssen. In einer Zeit der Arbeitskräfteknappheit sind die Arbeitnehmer einerseits in einer besseren Verhandlungsposition. Viele Firmen haben aber auch die Option, Aktivitäten ins Ausland zu verlagern oder in Zeiten der zunehmend digitalen Arbeitswelt Arbeitnehmer von anderswo zu rekrutieren.
Auch die „Rente mit 70“ wird wieder debattiert. Lässt sich eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters überhaupt verhindern, wenn man das System nicht komplett überfordern will?
Nein. Und es ist im Grunde wichtig, die Entscheidungen bald zu treffen. Bis 2029 wird das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre angehoben. Danach sollte man das Renteneintrittsalter an die fernere Lebenserwartung koppeln. Schon heute beträgt der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung etwa ein Viertel des Bundeshaushalts, Tendenz steigend. Wenn nicht gehandelt wird, sinken die finanziellen Spielräume in anderen Handlungsfeldern deutlich, zulasten zukünftiger Generationen.
Was wird die nachhaltigste Veränderung der Arbeitswelt sein, die sich aus Coronakrise und Digitalisierung ergibt?
Wir werden den Erwerbsverlauf ganz neu strukturieren müssen. Neben dem zunehmend digitalen Arbeiten wird insbesondere die Weiterbildung entlang des Erwerbslebens immer wichtiger werden. Einerseits ermöglicht das Reaktionen auf den Strukturwandel, denn die Tätigkeiten und die dafür nötigen Qualifikationen werden sich möglicherweise ändern. Andererseits muss es möglich sein, sich entlang des Erwerbsverlaufs für Tätigkeiten zu qualifizieren, die am Ende des Erwerbslebens leistbar sind. So kann dann auch eine Erhöhung des tatsächlichen Renteneintrittsalters gelingen.
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