Handel mit Osteuropa

Wirtschaftliche Bande werden immer enger

Die Reibereien der EU-Kommission mit Polen und Ungarn rücken auch die Bedeutung der Handelsbeziehungen Deutschlands zu Mittel- und Südosteuropa in den Fokus – denn die boomen seit Jahren.

Wirtschaftliche Bande werden immer enger

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Mehr als 30 Stunden standen Lkw-Fahrer an der Grenze zu Polen im Stau, als die Regierung in Warschau im Frühjahr 2020 Grenzkontrollen einführte. So wollte sie die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen – auf Kosten des seit dem EU-Beitritt 2004 freien Warenverkehrs. Christopher Fuß sieht darin einen Vorgeschmack, was der Wirtschaft auf beiden Seiten der Grenze im Falle eines Austritts Polens aus der Europäischen Union blüht. „Es geht um mehr als die Milliarden aus Brüssel“, sagt der in Warschau ansässige Experte der bundeseigenen Gesellschaft für Außenwirtschaft GTAI. Den Chef der polnischen Zentralbank zitiert Fuß mit den Worten: „Ohne EU-Mittel kämen wir schon klar.“ Wichtiger sei der freie Handel mit den EU-Staaten.

Die Reibereien der EU-Kommission mit Polen, Ungarn und anderen EU-Mitgliedern Mittel- und Südosteuropas samt Diskussionen über einen Polexit rücken auch die immer engeren wirtschaftlichen Bande mit der Region in den Fokus. Die Wirtschaftsbeziehungen­ deutscher Unternehmen mit den EU-Mitgliedern in Mittelosteuropa boomen seit Jahren. Den Coronaschock mit der zwischenzeitlichen Rückkehr von Grenzkontrollen haben die Handelspartner längst überwunden. Beim Wert des grenzüberschreitenden Warenhandels zeichnen sich im laufenden Jahr reihenweise Rekorde ab.

„Großmacht von nebenan“

Das gilt allen voran für Polen. Das Land ist zu Deutschlands fünftwichtigstem Handelspartner aufgestiegen, hat im Zuge des Brexit Großbritannien überholt und lässt auch Italien hinter sich. Der Bestand deutscher Direktinvestitionen in Polen hat sich binnen zehn Jahren verdoppelt. Autobauer und deren Zulieferer haben Produktionsstätten hochgezogen, andere Dax-Konzerne wie Bayer und die Deutsche Telekom haben in Forschung und Entwicklung investiert. Die Handelsumfänge im ersten Halbjahr 2021 lagen mit 71 Mrd. Euro fast ein Fünftel höher als im vergleichbaren Zeitraum 2019, vor der Coronadelle. Das ergab eine Sonderauswertung des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft.

Auch der Handel mit den übrigen drei Mitgliedern der sogenannten Visegrád-Gruppe – Ungarn, Tschechien und die Slowakei – ist seit der EU-Osterweiterung 2004 auf Kurs zu immer neuen Höhen (siehe Grafik). Alle vier dürften Ende des Jahres unter den Top-20-Handelspartnern Deutschlands rangieren. Zusammen bringen sie im Handel mit Deutschland inzwischen mehr Gewicht auf die Waage als China. Die staatliche Exportagentur GTAI, kurz für German Trade and Invest, veranlasste das schon vor der Pandemie, die kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegründete Interessengemeinschaft der Visegrád-Staaten aufgrund ihrer wirtschaftlichen  Bedeutung für Deutschland als „Großmacht von nebenan“ zu adeln.

Eine tragende Rolle spielt – das gilt auch für Rumänien – die Autoindus­trie. In der gegenwärtigen Situation gereicht dieser Umstand allerdings zum Nachteil: Wegen anhaltender Halbleiter-Engpässe haben Autobauer ihre Produktionspläne zusammengestrichen und zeitweise die Fertigung heruntergefahren oder gar Werke geschlossen. Vor allem in Tschechien und Ungarn belaste dies die wirtschaftliche Erholung, analysiert William Jackson, Schwellenländerexperte von Capital Economics.

Die deutsche Industrie schätzt Kostenvorteile bei Personal und Logistik. Zugleich entwickelt sich Mittelosteuropa von der verlängerten Werkbank mit niedrigen Lohnkosten zu einem „attraktiven Standort für Unternehmen auch im Bereich Hightech-Produktion oder Forschung und Entwicklung“, betont Oliver Hermes, Vorsitzender des Ostvereins der deutschen Wirtschaft (siehe Interview auf dieser Seite). Überall in der Region spüre man Konkurrenz um die zunehmend knappen qualifizierten Fachkräfte, was für höhere Löhne sorge. Statistiken zeigen, dass die Länder flächendeckend bei der durchschnittlichen Kaufkraft aufholen. Berthold Busch, Ökonom des Instituts der deutschen Wirtschaft, konstatiert: „Der ökonomische Aufschwung im Zuge des EU-Beitritts hat den Lebensstandard in den mittel- und osteuropäischen Ländern erheblich gesteigert.“

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.