Wo Russland Europa ausgeliefert ist
Von Eduard Steiner, Wien
Nun also Indien. Mitten im Ukraine-Krieg hat der nach China bevölkerungsreichste Staat mitgeteilt, dass er mehr russisches Öl importieren wolle. Dies sei im Interesse der Energiesicherheit, sagte Finanzministerin Nirmala Sitharaman im TV. Russisches Öl sei derzeit ja billig. „Warum sollte ich es nicht kaufen? Ich brauche es für mein Volk.“ Ein Volk, das ein Freund Russlands sei, wie dessen Außenminister Sergej Lawrow gleichzeitig erklärte.
Lawrow, sonst mit politischen Agenden überfrachtet, ist aktuell auch in Sachen Wirtschaft unterwegs. Angesichts der Verwerfungen mit dem Westen versucht nicht nur Europa, sich aus der übermäßigen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu befreien – und denkt laut EU-Ratspräsident Charles Michel „früher oder später“ an Importbeschränkungen. Bislang schreckt vor allem die Bundesregierung davor zurück. Auch Russland sucht neue Abnehmer und Wege, um sich aus der übermäßigen Abhängigkeit von europäischen Kunden, dem lukrativsten Markt, zu befreien.
„Europa nicht zu ersetzen“
Bei einem Wegfall des Exports nach Europa würde Russland bis zu 1 Mrd. Euro an täglichen Einnahmen entgehen. Zwischen 40 und 60% der Staatseinnahmen kommen aus dem Export dieser Rohstoffe. „Europa ist für Russland nicht ersetzbar“, sagt Michail Krutichin, Partner der Moskauer Energieberatungsfirma Rusenergy, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Schließlich pumpt Russland von seinen täglich 8 Mill. Barrel an Ölexport 4,5 Mill. Barrel in die OECD-Länder, also die großen Industrieländer. Bei Gas sind es etwa 155 Mrd. Kubikmeter, was 45% des europäischen Gasimports entspricht. „Das Exportsystem der russischen Rohstoffe ist zu über 90% nach Westen ausgerichtet“, benennt Marcus Keupp, Militärökonom der ETH Zürich, das Hauptproblem.
Das heißt nicht, dass sich Russlands Abhängigkeit nicht reduzieren ließe. Zumindest beim Öl. Hier gibt es wenigstens einen liquiden Weltmarkt. So hat neben Indien Indonesien Interesse signalisiert. China, wo Russland bereits zweitgrößter Lieferant ist, stünde ohnehin bereit. Wären da nicht einige Hürden. Die größte ist das beschränkte Exportsystem nach Asien. Unter Nutzung aller bestehenden Routen – Pipelines, Bahn und verfügbare Tanker – hat Russland zuletzt 1,6 Mill. Barrel pro Tag nach China geliefert. „Mehr geht logistisch nicht“, sagt Krutichin.
Warten auf Öl-Abnehmer
Gewiss: Öl (mit der russischen Hauptsorte Urals) im Volumen von täglich bis zu 1,2 Mill. Barrel wartet seit Beginn des Ukraine-Kriegs auf Abnehmer, weil Händler und Raffinerien aus Reputationsgründen im Geiste der Sanktionen ihre Bestellungen storniert haben. Doch habe man „nicht beobachtet, dass China europäische Urals-Frachten übernommen hätte“, schreibt Alex Sun, Analyst beim britischen Energieberater Wood Mackenzie. Das liege zum einen daran, dass der Transportweg doppelt so lang sei wie für Öl aus dem Nahen Osten. Auch habe China mit dem Nahen Osten langfristige Lieferverträge. Und drittens hätten die Sanktionen den Rohstofftransport sowie Bezahlwege und Versicherungen teuer bis riskant gemacht.
Dabei wäre russisches Öl derzeit preislich attraktiv, wie Indiens Finanzministerin zu Recht betont. Die Zurückhaltung der Händler hat dazu geführt, dass die Sorte Urals mit einem Preisabschlag von über 30 Dollar je Barrel gegenüber der europäischen Sorte Brent gehandelt wird (siehe Grafik). Noch also halten sich potenzielle alternative Käufer wie China und Indien zurück. Dies wird zum Teil auch daran liegen, dass man dort sogenannte sekundäre Sanktionen seitens der USA aufgrund von Umgehungsgeschäften fürchtet.
Ist also schon Russlands Chance, alternative Abnehmer für Öl zu finden, beschränkt, so ist die Möglichkeit, Gas statt nach Europa in andere Erdteile zu pumpen, ungleich schwieriger. „Russland könnte bei einem Embargo die für Europa vorgesehenen Gasmengen nicht umlenken“, sagt Walter Boltz, Energieberater und bis vor Kurzem Chef der Gasarbeitsgruppe in der Agentur der Europäischen Energieregulatoren (ACER). Über 80% des russischen Gasexports fließen Richtung Westen. Die wahre gegenseitige Abhängigkeit zwischen EU und Russland besteht also bei Gas.
Im Jahr 2014 hat sich immerhin China zum ersten Mal breitschlagen lassen und einem 30-jährigen Liefervertrag mit Gazprom für jährlich 38 Mrd. Kubikmeter Gas zugestimmt. Seit gut zwei Jahren ist die neue Pipeline „Power of Siberia“ in Betrieb, allerdings derzeit erst mit einer Füllmenge von 10 Mrd. Kubikmeter pro Jahr. Noch müssen ostsibirische Lagerstätten angeschlossen beziehungsweise ausgebaut werden. Die bestehenden Lagerstätten aber könnten für die 30 Jahre nicht ausreichen, wie kürzlich bekannt geworden sei, sagt Experte Krutichin.
Und auch für die zusätzlichen jährlich 10 Mrd. Kubikmeter Gas von der pazifischen Insel Sachalin, die Putin Ende Januar mit China vereinbart hat, würden die Fördermöglichkeiten aufgrund der fehlenden und vom Westen sanktionierten Technologie für Tiefseebohrungen fehlen. Um aber für China die Lagerstätten auf der arktischen Halbinsel Jamal anzuzapfen, aus der Europa beliefert wird, seien viele Jahre Bauzeit für eine Tausende Kilometer lange Pipeline zu veranschlagen.
Gazproms Versäumnisse
Gazproms Fixierung auf den Pipelineexport würde im Fall eines westlichen Importembargos also zur Katastrophe. Gazprom nämlich hat versäumt, wenigstens teilweise auf verflüssigtes Erdgas (LNG) zur weltweiten Verschiffung zu setzen, und ist lediglich auf der Pazifikinsel Sachalin in ein diesbezügliches Konsortium mit westlichen Firmen involviert. Das produziert jährlich 9,6 Mill. Tonnen, was 13,2 Mrd. Kubikmeter entspricht. Um eine neue Anlage auf Jamal zu bauen, würden Experten zufolge mindestens vier Jahre ins Land gehen. Gazproms inländischer Konkurrent Novatek war hier progressiver und verschifft von dort 20 Mill. Tonnen. Allein – der russische Staat hat vorerst nichts davon: Die Anlage ist nämlich für zwölf Jahre von Steuern befreit.