Agenda für die Kanzlerkandidaten ist anspruchsvoll
Eines ist gewiss und neu: Deutschland wird nach der Bundestagswahl am 26.September definitiv einen neuen Regierungschef oder eine -chefin haben. Denn erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik scheidet der Kanzler – im Fall von Angela Merkel (CDU) die Kanzlerin – freiwillig aus dem Amt, wird nicht abgewählt oder gestürzt. Nach 16 Jahren Kanzlerschaft will Merkel selbst den Stab weiterreichen. An der Spitze der Bundesregierung geschieht dies ausgerechnet in einer Krise, in der die Deutschen auf eine belastbare Regierung bauen. Nicht nur in dieser Zeit setzen die Wähler auf Kontinuität und Stabilität.
Die Corona-Pandemie ist noch nicht ganz gebannt, auch wenn der Fortschritt bei der Impfkampagne in diesem Jahr einen weniger schwierigen Herbst als 2020 verspricht. Die Frage, mit welchen Blessuren Gesellschaft und Wirtschaft aus der Krise wieder herauskommen, ist offen. Welche Unternehmen haben überlebt? Wie werden sie künftig ihre Arbeit organisieren? Lehren aus der Krise gibt es reichlich. Der föderale Staat hat seine Stärken, aber auch viele Schwächen offenbart. Das unkoordinierte Hin und Her zwischen Bund und Ländern gehört zu Letzteren. Ein belastbarer Krisenmechanismus steht aus; Einheit in Vielfalt muss noch geübt werden. Auch die Machtbalance zwischen Exekutive und Legislative, zwischen Regierung und Bundestag, muss für Krisen dieser Dimension neu tariert werden. Wirtschaftlich ist die Abhängigkeit Deutschlands und auch Europas in einer arbeitsteiligen Welt offenkundig geworden. In manchen Punkten hat sie sich als gefährlich erwiesen, etwa in fehlender Produktionskapazität für Impfstoffe. Zudem hat die Pandemie den Rückstand des Staates bei der Digitalisierung schonungslos offengelegt. Pandemiebekämpfung per Fax gehört in die Welt von gestern.
Das Zutrauen in die Fähigkeiten von Merkel als Kanzlerin spiegelt sich in ihren immer noch hohen Zustimmungswerten. Sie sind viel besser als diejenigen von Helmut Kohl (CDU) gegen Ende seiner Amtszeit, der lange den Rekord an Kanzleramtsjahren hielt. Die Rufe „Merkel muss weg“ aus der Hochzeit der Flüchtlingskrise sind eher der bangen Frage gewichen: „Was kommt danach?“ Drei Kandidaten bewerben sich um Merkels Nachfolge. Armin Laschet für die CDU, Annalena Baerbock für die Grünen und Olaf Scholz für die SPD. CDU-Parteichef Laschet hat wenig berauschende Zustimmungswerte, steht aber an der Spitze einer Partei, der mit der CSU zusammen die Wähler die höchste politische Problemlösungskompetenz zusprechen. Baerbock hat deutlich bessere Zustimmungswerte. Sie wird als sympathisch, klug und durchsetzungsstark wahrgenommen, ist aber noch jung und regierungsunerfahren. Bei Scholz liegt die Sache anders herum als bei Laschet. Dem amtierenden Vizekanzler trauen die Menschen viel zu, der SPD aber sehr wenig. Die Partei hat ihre ganze Zerrissenheit gezeigt, als sie ihrem stärksten Mann die Gefolgschaft bei der Wahl zum Parteivorsitz verweigerte, dann aber keinem der beiden gewählten Parteivorsitzenden die Kanzlerkandidatur zutraute. Die aktuellen Erzählungen über Pleiten, Pannen und Affären der Kanzlerkandidaten werden den Wahlkampf weiter durchziehen. Sie sind erprobtes Instrument, um die gegnerischen Kandidaten unglaubwürdig zu machen. Denn bei der Wahlentscheidung zählt, wem die Bürger am ehesten zutrauen, das Land zu führen.
Die Bundestagswahl ist nicht nur für Deutschland eine Zäsur. Sie wirkt auch über unsere Grenzen hinaus. So wie es die Welt berührt, wer Präsident der USA ist, spielt es mindestens in Europa eine wichtige Rolle, wer die Politik hierzulande und in Frankreich bestimmt. Schon 2022 wird auch im Nachbarland zu den Urnen gerufen. Der weitere Weg Europas hängt stark vom Ausgang dieser beiden Wahlen ab. Der nächste deutsche Regierungschef, der nach den Umfragen Armin Laschet heißen dürfte und sich in einer Koalition wenigstens mit den Grünen arrangieren muss, hat über die Europapolitik und die Pandemiebewältigung hinaus noch eine lange Aufgabenliste. Denn schon vor der Krise stand der Umbau der Sozialen Marktwirtschaft in ein klimafreundliches System an. Die Digitalisierung strahlt weit aus. Der demografische Wandel stellt nicht nur die Produktion und den Arbeitsmarkt auf die Probe. Die alternde Bevölkerung erzwingt auch eine Revision des Sozialstaates und der Altersvorsorge. Die Globalisierung verschiebt das weltpolitische Kräfteparallelogramm und fordert den deutschen Industriestandort heraus. In den nächsten Wahlkampfwochen wird sich zeigen, wer am besten überzeugt, diese Agenda beherrschen zu können. (Börsen-Zeitung,