Alle Hoffnungen ruhen auf Polen
EU-Ratsvorsitz
Alle Hoffnungen ruhen auf Polen
Die Zahl der Regierungen, die Einigungen
auf gemeinsame
EU-Positionen durch Störfeuer bremsen,
steigt stetig.
Von Detlef Fechtner
Bis vor einer Woche hatte Ungarns Regierung unter Viktor Orbán die EU-Ratspräsidentschaft, inne – die „schlechteste der EU-Geschichte“, wie der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund befindet. Er begründet das unter anderem damit, dass unter Ungarns Vorsitz nur acht Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen wurden – üblich seien mehr als fünfmal so viel. Dieser Vorwurf ist freilich maßlos unfair. Denn dass so wenig Dossiers ausverhandelt wurden, lag mehr an der Neusortierung des frisch gewählten EU-Parlaments und an Regierungskrisen in Paris und Berlin als am Ungeschick des EU-Ratsvorsitzes.
Mit seiner Kritik hat der EU-Parlamentarier trotzdem einen Punkt. Aber nicht wegen des geringen Abschlusses von EU-Vorgaben – die Kennziffer ist in Zeiten wachsender Vorbehalte gegen regulatorische Überforderung ohnehin ein zweifelhaftes Kriterium. Sondern wegen der Vermessenheit von Orbán, sich bei peinlichen Inszenierungen in Peking, Moskau und Mar-a-Lago auf Kosten der Geschlossenheit der EU zu profilieren. Insofern ist es ein Segen, dass Ungarns grottenschlechter EU-Ratsvorsitz endlich abgelaufen ist. Denn gerade in Zeiten geopolitischer Krisen, handelspolitischer Verspannungen und akuter Bedrohungen von – über viele Jahrzehnte gemeinsamen – Werten und Überzeugungen muss sich eine EU-Ratspräsidentschaft heute vor allem an ihrem Willen und ihrem Vermögen messen lassen, die EU nach innen zu einen und nach außen zu stärken.
Zum einen nämlich sind die Probleme mit den Partnern beziehungsweise Kontrahenten in der Welt extrem kompliziert geworden. Das gilt für die angemessene Reaktion auf die Provokationen von Elon Musk und Donald Trump ebenso wie für die richtige Balance im Verhältnis mit China. In beiden Fällen geht es längst um eine neue Dimension der Konfrontation, nicht bloß um Strafzölle. Zum anderen sind die zentrifugalen Kräfte in der Europäischen Union größer geworden. Die Zahl nationaler Regierungen, die Verständigungen auf gemeinsame Positionen durch Störfeuer schwieriger machen, steigt stetig: Ungarn, die Slowakei, demnächst wahrscheinlich Österreich.
Deshalb ist es ein mehr als glücklicher Zufall, dass der Rats-Kalender gerade jetzt den Übergang des Ratsvorsitzes von Ungarn an Polen vorsieht. Polens Ministerpräsident Donald Tusk gilt als europäischer Hoffnungsträger und Leitfigur – als einer, dem zugetraut wird, den inneren Zusammenhalt der EU zu festigen. Weil er als früherer Präsident des Europäischen Rates sein Talent als europäischer Vermittler unter Beweis gestellt hat. Und weil sich Polens Regierung im Vorfeld der EU-Präsidentschaft eindeutig bei zentralen Themen festgelegt hat: Die Ukraine soll sich auf die Unterstützung der EU verlassen können, und die EU soll Maßnahmen ergreifen, um ihre Resilienz zu stärken. Nicht zufällig lautet das Motto für die nächsten sechs Monate: „Security, Europe!“
Zwar geben EU-Diplomaten zu bedenken, dass in Polen im Frühjahr Präsidentschaftswahlen anstehen und der Wahlkampf den europapolitischen Spielraum von Tusk einschränke. Die Hoffnungen der EU-Partner konzentrieren sich dennoch so sehr auf Polen, weil es wenig andere Optionen gibt. Das französisch-deutsche Tandem fällt zumindest auf Sicht der nächsten Wochen aus. Zugleich ist unklar, wie weit die Verbundenheit und Loyalität Italiens gegenüber den gemeinsamen Interessen der EU tatsächlich reicht – zumal Regierungschefin Giorgia Meloni wie jüngst beim Kurztrip zu Trump Zweifel daran aufkommen lässt.
Viele Jahre konzentrierte sich das Interesse von Banken, Börsen, Investoren und Fonds an dem, was in Brüssel geschieht, nur auf Details der Finanzmarktregulierung. Das hat sich – leider – fundamental verändert. Denn längst stellen Kriege, Energieknappheit, Rohstoffabhängigkeit oder Handelssperren für die Kreditwirtschaft höhere Risiken dar als Kapitalpuffer oder Berichtspflichten. Der Regierung Polens als gerade gestartete EU-Ratspräsidentschaft kommt die enorm wichtige Rolle zu, dazu beizutragen, dass hoffentlich möglichst bald wieder die alltäglichen Kontroversen um Mifid, CSRD & Co. ganz oben auf den Tagesordnungen der Gipfel- und Ministertreffen stehen.