Argentinien vor einer Schicksalswahl
Argentinien vor einer Schicksalswahl
Das fast bankrotte Land könnte erneut einen Populisten küren. Der ultraliberale Javier Milei und der Peronist Sergio Massa versprechen Wunderheilung. Aber die Märkte sind skeptisch.
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Kurz vor den Präsidentschaftswahlen am Sonntag hängt eine große Ungewissheit über Argentinien. Aus den Vorwahlen im August gingen drei fast gleich starke Lager hervor, die sich weiterhin Hoffnungen machen auf den Sieg am Sonntag oder auf den Einzug in eine Stichwahl am 19. November.
In den meisten Umfragen führt Javier Milei, der auch die Vorwahlen mit etwa 29% gewonnen hatte. Dem selbsterklärten „anarcho-libertären“ Gründer der Partei „La Libertad Avanza“ wird in den meisten Umfragen zugetraut, mit seiner Partei etwa 35% der Stimmanteile zu erhalten. Er macht sich und seinem fanatischen Anhang große Hoffnungen, bereits im ersten Wahlgang zu siegen. Dazu reichen 40% der Stimmen und mindestens 10% Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Dieser wäre gemäß den meisten Umfragen der peronistische Wirtschafts- und Finanzminister Sergio Massa. Dahinter rangiert mit etwa 25% Patricia Bullrich, die das Mitte-Rechts-Bündnis „Juntos por el Cambio“ anführt, das in den Vorwahlen noch an zweiter Stelle lag.
Mehrere Wahlen in Argentinien am Sonntag
All diese Zahlen sind allerdings mit erheblicher Vorsicht zu lesen. Denn zum einen war fast ein Drittel der Wählerschaft bei den Vorwahlen daheimgeblieben. Außerdem haben die Demoskopen in letzter Zeit mehrmals dramatisch danebengelegen. Vor den Vorwahlen prognostizierten sie Milei den dritten Platz mit etwa 18% der Stimmanteile. Aber er eroberte mit 29% mehr als alle anderen Kandidaten.
Neben dem obersten Staatsamt werden am Sonntag auch Teile von Senat und Kongress neu gewählt, ebenso wie Regierungen und Parlamente in Provinzen. Hier dürften sowohl Peronisten und Mitte-Rechts-Kräfte deutlich besser abschneiden als der libertäre Newcomer, der im Landesinneren keine Parteistruktur besitzt. Insgesamt dürfte Mileis Partei nicht mehr als 15% der Mandate im Kongress und höchsten 10% der Sitze im Senat gewinnen.
Populismus gegen Establishment
Milei begeistert viele seiner Wähler, weil er sich als Anti-Politiker präsentiert, als Newcomer, angeblich unbefleckt von jener „Kaste“ aus Politik und Staatsapparat, gegen die er wettert. Darum wurde die Kettensäge zu seinem Markenzeichen während dieses Wahlkampfs. Die Theorie von einer Clique aus gierigen Politikern, korrupten Gewerkschaftlern, wettbewerbsabholden Unternehmern und gekauften Journalisten ist sein Motto. Dabei hat der Ökonom jahrelang selbst in der Holding Corporación América gearbeitet, als persönlicher Referent des Konzerndirektors Eduardo Eurnekian, der sämtliche Kriterien für Mileis „Kaste“ verkörpert.
Doch ähnlich wie die Wähler Donald Trumps scheint sich Mileis Anhang an derlei Inkonsistenzen nicht zu stören. Wie Trump war Milei zunächst eine TV-Figur. Talkshow-Redakteuren garantierte Mileis bizarrer Mix aus verschwurbelt vorgetragener liberaler Wirtschaftstheorie, Löwenmähne und lautstarken verbalen Entgleisungen hohe Einschaltquoten. Im Hauptabendproramm konnte Milei den Hauptstadtbürgermeister ebenso als „widerwärtigen Wurm“ beschimpfen wie den Papst als kommunistisch geprägtes „Dämonium“. Rentner bezeichnete er als „angepinkelte Alte“. Solche Sprüche begeistern vor allem junge Wähler.
Milei will Zentralbank abschaffen
Investoren sind da weitaus skeptischer. Nach Mileis Vorwahl-Triumph sanken die Kurse argentinischer Aktien und Staatsanleihen, die in Erwartung eines zivilisierten Regierungswechsels zuvor monatelang gestiegen waren. Milei ist wohl eine Antwort auf den desolaten Zustand Argentiniens. Aber auch ein großes Fragezeichen für die Zukunft.
Milei verspricht, den Dollar anstelle des schwindsüchtigen Peso einzuführen, die Zentralbank abzuschaffen und den Staatsapparat massiv zu reduzieren. Mehr als die Hälfte aller bisherigen Ministerien will er schließen und die Staatsausgaben um 15% des Bruttoinlandsprodukts zurückfahren, etwa durch den Abbau von Subventionen und Zuweisungen an die Provinzen. Das öffentliche Bauwesen will Milei einstellen und die Kostenfreiheit im Gesundheitssektor und im Bildungswesen beschneiden. Sinkende Staatsausgaben könnten Raum für Steuersenkungen geben, die er nutzen will, um Investoren anzuziehen. Gleichzeitig soll sich die Wirtschaft dem Welthandel öffnen.
Um ein solches Feuerwerk durchzuführen, braucht es in Argentinien breite parlamentarische Mehrheiten, aber die wird Milei nicht bekommen. Beseelt von seiner Mission versichert er, dass sich das politische Spektrum nach seinem Sieg neu ordnen werde, dass sich Parlamentarier anderer Lager der libertären Mission anschlössen. Als Brückenbauer hat sich Milei freilich bislang nicht ausgezeichnet. Im Gegenteil, hat er doch mit seiner aggressiven und egomanischen Art viele Weggenossen verstört. Aber der nächste Präsident wird verhandeln müssen, denn dem Land rennt die Zeit für eine Stabilisierung davon.
Zahlungsausfall droht
Die neue Regierung wird am 10. Dezember ein Land übernehmen, dem ein erneuter Zahlungsausfall droht. Der Finanzminister und Spitzenkandidat Massa hat mit generösen Wahlgeschenken die Ungleichgewichte dramatisch verschärft. Kurz vor dem Wahltag ließ er Löhne und Renten erhöhen und Steuern für Besserverdienende senken. In krassem Widerspruch zu den Zusagen, die er dem Internationalen Währungsfonds gab, hat Massa Milliarden ausgegeben – im Wissen, dass die Staatskassen leer sind. Die Währungsreserven liegen im Negativbereich, die Importeure schulden ihren Lieferanten mehr als 20 Mrd. Dollar, aber die Zentralbank gibt die erforderlichen Devisen nicht frei, weil sie schlicht keine mehr hat.
Vor diesem Hintergrund haben viele Argentinier versucht, ihre Habe in Devisen zu sichern, und trieben so die Schwarzmarktkurse an. Damit nährten sie die Inflation, die im September bei fast 140% im Jahresvergleich lag. Ein Teufelskreis. Der ehemalige Zentralbankchef und vormalige Finanzminister Alfonso Prat Gay, beileibe kein unbedachter Alarmist, warnt, das Land stehe „an der Schwelle zu einer Hyperinflation“.
Problem der Dollar-Einführung
Um dem Joch der Teuerung zu entkommen, predigt Milei die Einführung des Dollar. Anhänger dieser Idee versichern, dass ein Stopp des Preisanstiegs profunde Reformen erleichtern würde. Aber ein Zusperren der Zentralbank, so argumentieren die Skeptiker, könnte dem exportabhängigen Land künftig Möglichkeiten nehmen, externe Risiken durch Wechselkurskorrekturen abzufedern. Die Mitte-Rechts-Koalition möchte daher stattdessen die Zentralbank behalten, aber deren Verbindungen zum Finanzministerium total kappen, um künftigen Regierungen die Kontrolle der Notenpresse zu nehmen.
Vor allem hat die Idee der Dollarisierung ein praktisches Problem: Woher sollen die Greenbacks kommen? Die Finanzmärkte sind verschlossen, der IWF hat den größten jemals vergebenen Kredit ausstehen, und China hat zuletzt wohl den Peronisten einen Überbrückungskredit für den Rest des Jahres zugestanden, aber der glühende Antikommunist Milei wird sich in Peking schwertun. Milei behauptet, ihm reichten „nur“ 30 Mrd. Dollar, um anzufangen. Aber hohe Finanzkreise sind mehr als skeptisch und befürchten vor allem Turbulenzen. So erklärt sich, warum ein möglicher Triumph eines Marktfanatikers die Wertpapierkurse fallen lässt.
Radikaler Ansatz: Mit rotierender Kettensäge macht Javier Milei Wahlkampf gegen die „Kaste“. Der „Anarcho-Kapitalist“ will den Staat entkernen, die Zentralbank schließen und die Inflation durch die Einführung des US-Dollars bremsen.