Arithmetik der Regulierung
In den vergangenen Wochen ist die Debatte über Regulierung neu entflammt. Angesichts der konjunkturellen Bremswirkung von Ukraine-Krieg und nicht enden wollender Pandemie häufen sich die Vorstöße von Industrieverbänden, Familienunternehmen und Wirtschaftsvereinigungen, die auf weniger Regulierung dringen oder auf ein „Belastungsmoratorium“ pochen. Hinter diesen Forderungen steckt die Vorstellung einer zweifelhaften, weil viel zu plumpen Arithmetik der Regulierung – in dem Sinne: Jede neue Vorgabe schafft zusätzliche Lasten für Unternehmen und Banken. Das ist – in dieser pauschalen Form – natürlich Unfug.
Gewiss, Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden schießen in Einzelfällen über das gebotene Maß an Anforderungen und Meldepflichten hinaus. Und in der Tat haben Industrie und Kreditwirtschaft durchaus Grund zur Klage darüber, dass sie oft zum gleichen Sachverhalt an verschiedene staatliche Stellen unterschiedliche Angaben liefern müssen, weil es Behörden versäumen, sich abzustimmen und einheitliche Standards zu entwickeln.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Kreditinstitute und Firmen in erheblichem Maße selbst daran schuld sind, dass der Aufwand für sie im Meldewesen hoch ist. So bieten etwa Behörden Banken an, dass sie ihnen bestimmte Datensätze nicht mehr zusammenstellen müssen, sofern sie der Behörde elektronischen Zugang zu bestimmten Bereichen der bankinternen Systeme ermöglichen. Bemerkenswerterweise, so berichten Beamte, seien dazu viele Institute nicht bereit – oft genug übrigens diejenigen, die sonst lautstark das Hohelied auf die Möglichkeiten der Digitalisierung und damit verbundene Aufwandserleichterungen singen. Dass sich Institute weigern, Behörden Zugang zu ihren Daten zu gewähren, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass es sich diese Banken nicht nehmen lassen wollen, selbst auszuwählen, welche Kennzahlen sie zur Verfügung stellen und welche nicht – anders ausgedrückt: Window Dressing zu betreiben. Wohlgemerkt: Es geht häufig nicht um sensible, aufsichtliche Daten, sondern um statistische Kennziffern.
Der Ruf nach weniger Regulierung in schwierigen Zeiten ist auch deshalb nicht überzeugend, weil gerade in kritischen Situationen schnelles und beherztes Handeln von Regulierern doppelt wichtig ist. Europas Gesetzgeber und Aufseher haben gerade in der Pandemie bewiesen, wie sie durch schnelle Anpassungen und temporäre Korrekturen von Vorgaben den Spielraum von Banken mit Blick auf Kapitalquoten, Risikovorsorge oder Verlustausweisen von jetzt auf nun erweitert haben. In anderen Worten: Gerade in der Krise sind Politik und Verwaltung gefragt, flugs Bremsen zu lockern oder Anreize zu setzen, um prompte Reaktionen von Wirtschaft und Finanzbranche zu ermöglichen – selbst wenn dies mit dem ein oder anderen zusätzlichen Reporting einhergeht.
Ohnehin ist die Dauerklage über die vermeintlich ständig überbordenden Meldepflichten insofern wohlfeil, wenn gleichzeitig Unternehmen und Banken bei jeder sich bietenden Gelegenheit größtmögliche Transparenz versprechen. Die Meldepflicht ist schließlich die kleine Schwester der Transparenz. Bei denen, die ständig über jedes Reporting jammern, kann man kaum glauben, dass sie es ernst meinen mit ihrem Bekenntnis zu Transparenz.
Die stete Beschwerde über zu viele Berichtsanforderungen wirkt zudem gerade vor dem Anspruch befremdlich, sich nachhaltiger aufzustellen. Wer neben dem kaufmännischen Erfolg auch Umwelt- und Klimaschutz ebenso wie soziale Balance und gute Unternehmensführung zum Ziel unternehmerischen Handels erklärt, muss zur Dokumentation dieser Anstrengungen bereit sein – sonst wirkt jedes ESG-Bekenntnis unglaubwürdig. Standards, wie sie nun das ISSB entwickelt, oder Taxonomien, wie sie gerade in Brüssel ausformuliert werden, sollen helfen, die Vergleichbarkeit insbesondere für Investoren zu erleichtern. Dass Unternehmenslobbys gerade diese Bemühungen um einheitliche Vorgaben für nichtfinanzielle Kennziffern als unnötige Zusatzbelastung kritisieren, ist nicht nachvollziehbar. Denn angesichts der vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs zu Tage getretenen Abhängigkeiten Europas von fossiler Energie aus Russland ist der möglichst schonende Umgang der Industrie mit Ressourcen mehr denn je entscheidend für ihre Zukunftsaussichten. In dieser Situation ist es kurzsichtig, den Umbau der Wirtschaft von Braun zu Grün als Nebensache abzutun, die man sich erst wieder in stabileren Zeiten leisten kann, nur weil man den Aufwand scheut, die eigene Transformation belastbar zu dokumentieren.