Energiekrise

Atomkraft-„Streck­betrieb“ wird zum Not­strom­plan

Die Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke soll den Strompreis dämpfen. Damit wäre eine erhebliche Entlastung möglich.

Atomkraft-„Streck­betrieb“ wird zum Not­strom­plan

Wenn sich die SPD-Bundestagsfraktion am heutigen Donnerstag in Dresden zur Klausur trifft, dann wird es spannend. Im Bilderberg Bellevue Hotel („Setzen Sie geschäftliche Treffen in wertvolle Begegnungen um!“) werden die Abgeordneten über etliche wichtige Weichenstellungen in der deutschen Energiewirtschaft mitbestimmen.

Das Umfeld dafür könnte kaum explosiver sein. Der Ausfall der russischen Gaslieferungen nach dem Überfall auf die Ukraine macht nicht nur das warme Duschen oder die indus­trielle Herstellung von Produkten wie Dünger weitaus teurer als bisher, sondern treibt auch den Strompreis in ungeahnte Höhen, weil die Kosten für aus Gas erzeugten Strom den Preis am gesamten Strommarkt bestimmen. Ein Weiterbetrieb der drei letzten noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke über das politisch festgezurrte Auslaufdatum 31. Dezember 2022 hinaus könnte vor diesem Hintergrund eine willkommene Entlastung bei den Lebenshaltungskosten mit sich bringen. Es geht um die Kernkraftwerke Emsland (RWE), Neckarwestheim 2 (EnBW) und Isar 2 (Eon bzw. Preussenelektra).

Oberflächlich betrachtet fällt die Beschlussvorlage zu den AKWs für die Klausur der SPD-Bundestagsfraktion sehr klar aus. Unter der Überschrift „Keine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke“ heißt es im Sechs-Seiten-Papier, das der Börsen-Zeitung vorliegt: „Wer suggeriert, dass es bei der Bewältigung der Krise mit der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken getan ist, führt eine Scheindebatte“, weist der Text solche Pläne zurück. „Sämtliche Gründe, die zum nationalen Konsens des Atomausstiegs geführt haben, gelten weiter uneingeschränkt.“ Doch dann heißt es: „Auch bei einem etwaigen Streckbetrieb, der aktuell Gegenstand einer gutachterlichen Prüfung durch das Bundeswirtschaftsministerium ist, müssten bestehende Sicherheitsstandards gelten.“

Eine Laufzeitverlängerung heißt jetzt also „Streckbetrieb“. Das für Außenstehende schwer Begreifliche an der Sache ist, dass die Reaktoren dafür keinen neuen Brennstoff benötigen, also der Reaktordruckbehälter weder geöffnet wird, noch Brennelemente nachgeladen werden. Anders als andere Kraftwerke werden Atommeiler nicht kontinuierlich mit einem Brennstoff wie Gas oder Kohle beschickt, sondern nur einmal im Jahr mit Brennelementen beladen, von denen beim nächsten Mal jeweils ein Viertel ausgetauscht wird. Am Laufzeitende des AKW haben die zuletzt hinzugefügten Brennelemente noch eine Leistungsreserve. Nicht der „Tank“ ist leer, sondern die Tankanzeige zeigt null.

Warten auf den Stresstest

Wer sich bei den Energiekonzernen nach dieser Leistungsreserve erkundigt, erfährt im Hintergrund: Der Stresstest für den Strommarkt, der derzeit auf Anweisung des Bundeswirtschaftsministeriums von der Bundesnetzagentur gemeinsam mit den Übertragungsnetzbetreibern durchgeführt wird, wird zum Ergebnis haben, dass es im bevorstehenden Winter zumindest in Süddeutschland zu einer physischen Stromknappheit kommt, die auf die ohnehin schon hohen Strompreise in ganz Deutschland durchschlägt. Auch die Abschaltung verrosteter Atomkraftwerke in Frankreich und der Kühlwassermangel im Nachbarland tragen zu der Energiekrise bei.

Zur Dämpfung der Strompreise verweist Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf zusätzliche Kapazitäten in der Kernenergie oder die Reaktivierung von Kohlekraftwerken. Man müsse aber auch dafür sorgen, „dass nicht die Gaskraftwerke den Strompreis insgesamt nach oben treiben“. Am Ende wird wohl auch die Bundesnetzagentur keine klare Empfehlung an die Politik geben, die drei AKWs weiterlaufen zu lassen, sondern nur Szenarien aufzeichnen. „Technisch ist der Weiterbetrieb bis April 2023 möglich, indem nicht voll ausgenutzte Brennstäbe zu Ende verwendet werden“, sagt RWE-Sprecherin Stephanie Schunck. Damit lasse sich zwar keine volle Leistung bis zum letzten Tag erzielen. Aber rund 70 % gelten als möglich.

Allerdings sind die Hürden dafür hoch. Schließlich ist der Ausstieg aus der Kernenergie im Atomgesetz vorgeschrieben. Zudem hat die letzte große Sicherheitsüberprüfung, die eigentlich alle zehn Jahre vorgenommen wird, 2009 stattgefunden. 2019 gab es keinen neuen Check mehr, weil der Atomausstieg 2022 dazu führt, dass Umrüstungen ohnehin nicht mehr rechtzeitig kämen.

Zur Lösung der Energiekrise würde der Weiterbetrieb aber allemal beitragen. „Der Streckbetrieb stellt eine zusätzliche Reserve dar, die im kommenden Winter leicht genutzt werden könnte“, konstatiert Kai Kosowski von der Eon-Kernenergie-Tochter Preussenelektra, die das Atomkraftwerk Isar 2 betreibt. „Und diese zusätzlich erzeugbaren Strommengen sind erstaunlich groß im Vergleich zu dem, was konventionelle Kraftwerke erzeugen können. Nach 88 Tagen liegen noch 70 % der Reaktornennleistung vor“, betont der nukleare Sicherheitsingenieur.

Damit wäre eine erhebliche Entlastung möglich, eine Dämpfung des Strompreisanstiegs: Noch 2021 hatte die Kernenergie 13,3 % zu dem in Deutschland erzeugten Strom beigesteuert – mehr als 65 Terawattstunden. Zum Vergleich: Erdgas trug nur 10,4 % zur Stromerzeugung bei.

Auch Deutschlands Nachbarn haben ein Interesse an der Laufzeitverlängerung: Man würde es begrüßen, wenn der Betrieb der deutschen Kernkraftwerke wenigstens um einige Monate verlängert werden könnte, sagte der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala nach einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Prag. Außenministerin Annalena Baerbock lehnt indes eine längere Laufzeit der Kernkraftwerke weiter strikt ab – ebenso wie ihr Parteikollege Jürgen Trittin, der bereits darauf hinweist, dass dafür ein Parteitagsbeschluss notwendig wäre. „Ich bin nicht überzeugt, dass Atomkraftwerke unser Gasproblem lösen werden“, sagte die Grünen-Politikerin. „Ob wir noch ein Stromproblem in Bayern bekommen, weil man dort den Netzausbau verschleppt hat, wird derzeit im Stresstest überprüft.“ Denjenigen, die gerade über Atomkraft redeten, gehe es nicht um den Streckbetrieb. „Sie wollen eine Rolle rückwärts zur Atomkraft. Wir haben für das Hin und Her beim Atomausstieg im letzten Jahrzehnt viele Milliarden bezahlt. Das jetzt wieder umzuwerfen wäre Irrsinn und würde uns noch teurer zu stehen kommen.“

Drei neue AKWs bauen

So schlägt Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer den Bau neuer Atomkraftwerke vor. „Meine Formel lautet drei plus drei plus drei: Drei Kernkraftwerke müssen länger laufen, drei müssen reaktiviert werden, und drei müssen neu gebaut werden“, sagte der CSU-Politiker. „Wir brauchen eine verlässliche Versorgung der Wirtschaft mit Energie, sonst schreitet die Deindus­trialisierung Deutschlands voran.“ Deutschland sei zum Bittsteller in der Welt geworden und hole sich Abfuhren für neues Gas in Katar, Kanada und Norwegen. Deutschland stecke in der Ideologiefalle der Grünen.

Den Aktienkursen der Energiekonzerne hat die Diskussion nicht ge­schadet. Der Börsenwert des Stromerzeugers RWE hat sich seit 2018 auf 25,6 Mrd. Euro verdoppelt. Der Eon-Kurs hat sich seit Jahresmitte von 8 Euro auf 8,50 Euro erholt.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hält es angesichts der gravierenden Energiekrise sogar für notwendig, dass die drei noch am Netz verbliebenen Atomkraftwerke bis mindestens 2030 weiterlaufen. Außerdem müssten die drei zuletzt stillgelegten Kernkraftwerke wieder reaktiviert werden – also Grohnde (Eon), Gundremmingen C (RWE) und Brokdorf (Eon). „Kurzfristig muss die Laufzeit der drei verbliebenen Atomkraftwerke verlängert und es sollte auch geprüft werden, ob die drei zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke wieder ans Netz gebracht werden können“, sagte Grimm.

Von Christoph Ruhkamp, Frankfurt

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