Preisentwicklung

Das japanische Inflationsrätsel

Im Vergleich zu Europa und den USA steigen die Preise in Japan weiter verblüffend langsam. Im Juli erreichte die Inflation in der Kernrate (ohne frische Lebensmittel) lediglich das Achtjahreshoch von 2,4% zum Vorjahr.

Das japanische Inflationsrätsel

Von Martin Fritz, Tokio

Im Vergleich zu Europa und den USA steigen die Preise in Japan weiter verblüffend langsam. Im Juli erreichte die Inflation in der Kernrate (ohne frische Lebensmittel) lediglich das Achtjahreshoch von 2,4% zum Vorjahr. Rechnet man die Energiekosten heraus, halbiert sich die Rate sogar auf 1,2%. Allerdings beunruhigen diese eigentlich geringen Preissprünge die Japaner schwer. Denn zwischen 1991 und 2021 lag die jährliche Kernteuerung gemäß OECD-Daten im Schnitt nur bei 0,4%. In der Eurozone erreichte sie 1,7% und in den USA 2,2%. Doch im Juli verteuerten sich Nahrungsmittel in Japan bereits um 3,7%. Ab August werden laut Marktforscher Teikoku 10000 Waren teurer. Viele Analysten erwarten jedoch für Japan nicht mehr als 3% Inflation in diesem Jahr.

Der anhaltend hohe Abstand zum Westen gibt den Ökonomen Rätsel auf. Vordergründig hängt die schwache Preisentwicklung wohl damit zusammen, dass die Regierung die Wirtschaft in der Pandemie stark stützte und die konjunkturelle Erholung relativ spät und schwach einsetzte. „Dadurch haben sich die globalen Lieferengpässe weniger auf die Preise ausgewirkt“, sagt Martin Schulz, Chefvolkswirt von Fujitsu. „Die Inflation wird nur von höheren Importpreisen für Rohstoffe und Getreide und der Yen-Abwertung getrieben, während eine starke Nachfrage fehlt“, betont Takeshi Minami, Chefökonom beim Forschungsinstitut Norinchukin.

Strukturelle Gründe wirken sich ebenfalls aus. Notenbankchef Haruhiko Kuroda verweist seit Jahren auf die „deflationäre Denkweise“ der Bürger, die keine Geldentwertung mehr kennen. Umfragen zufolge haben die meisten Japaner bisher eher den Supermarkt oder die Marke gewechselt, als eine Preiserhöhung zu akzeptieren. Denn auch ihre Einkommen stagnierten: Der Monatslohn von Festangestellten ist etwa von 2012 bis 2021 nur um insgesamt 3,3% auf 307000 Yen (2260 Euro) gestiegen. Goldman Sachs Japan nennt einen stillen Vertrag zwischen Kapital und Arbeit als Grund. „Die Festangestellten bevorzugen sichere Jobs gegenüber Lohnzuwächsen“, erklärt Chefökonom Naohiko Baba. Die Ökonomen Thomas Mayer vom Forschungsinstitut Flossbach und Gunther Schnabl von der Universität Leipzig sprechen in einem CES-Ifo-Aufsatz sogar von einem „außerordentlichen Maß an Lohnzurückhaltung“. Laut ihrer Kalkulation sanken die Löhne in der Privatwirtschaft seit Ende der 1990er Jahre um 12%.

Mayer und Schnabl argumentieren, dass Japan nach der „Blasenwirtschaft“ der 1980er Jahre einen Übergang von einer Periode mit hohem Wachstum und relativ hoher Inflation zu einer Periode mit niedriger Inflation und niedrigem Wachstum erlebte. Es öffnete sich eine Schere zwischen der Geldmenge und dem nominalen Bruttoinlandsprodukt. Die niedrige Inflation trotz einer starken monetären und fiskalischen Expansion sei eine Folge der Wertverluste von Sachwerten wie Aktien und Immobilien, die in Japan bezeichnenderweise „Preiszerstörung“ heißen. Die anhaltende Niedrigzinspolitik schwächte die Rolle der Kreditvergabe der Banken an den privaten Sektor. Staatliche Preiskontrollen verankerten die Inflation auf niedrigem Niveau.

Schnabl nennt in einem Beitrag für „East Asia Forum“ folgende Faktoren für den schwachen Preisauftrieb: Die expansive Geldpolitik der Bank of Japan drückte die Finanzierungskosten der Unternehmen und machte Preisanhebungen für sie weniger notwendig. Der BoJ-Ankauf von Staatsanleihen in großem Stil ermöglichte der Regierung hohe Beihilfen, die sich seit 1990 auf jährlich 130 Bill. Yen (fast 1 Bill. Euro) vervierfacht hätten. Inzwischen würde der Staat die Hälfte der Waren und Dienstleistungen im Indexkorb für die Verbraucherinflation subventionieren. Tatsächlich gibt es Zuschüsse unter anderem für Bahnfahrten, Reis, Sojabohnen sowie Kindergarten- und Studiengebühren.

Als Folge der expansiven Geldpolitik lagen Japans Leitzinsen laut Schnabl unter dem Niveau in den USA, was eine kontinuierliche Kapitalabwanderung verursachte. Private Haushalte parken ihre Ersparnisse in Dollar, Lebensversicherer kaufen US-Treasuries, die Finanzgruppen vergeben Kredite in Südostasien. Der Abfluss von Kaufkraft ins Ausland – laut Schnabl/Murai im Schnitt jährlich 127 Mrd. Dollar seit 1990 – verringerte den inländischen Inflationsdruck bei Preisen, Löhnen und Mieten trotz wachsender Geldmenge. Dafür habe Japan jedoch einen hohen Preis in Form von sinkendem Lebensstandard, wachsenden Staatsschulden und einer zunehmenden Zahl von Zombie-Unternehmen gezahlt.

Wenn diese Analyse richtig ist, dann zielte die 10 Jahre lang verfolgte Wirtschaftspolitik der Abenomics am Kernproblem vorbei, weil sie auf Strukturreformen verzichtete. In dieses Bild passt, dass die BoJ als einzige große Notenbank derzeit die Zinsen nicht erhöht, obwohl sie damit die eigene Währung schwächt und die Importpreise anheizt. Der „neue Kapitalismus“ von Premierminister Fumio Kishida vermeidet nach dem Vorbild der Abenomics ebenfalls jede Art von Schmerz für Beschäftigte und Firmen, indem die gestiegene Un­gleichheit durch weitere Preiskontrollen und Beihilfen bekämpft wird. Der Staat subventioniert nun sogar Lohnerhöhungen: Allerdings dürften die von Kishida eingeführten Steuerfreibeträge von bis zu 40% für Gehaltssteigerungen schon daran scheitern, dass zwei Drittel der Firmen gar keine Einkommensteuer zahlen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.