Der Tag der Blumensträuße
Es war ein Tag der Blumensträuße, der Glückwünsche und der stehenden Ovationen. Nach 16 Jahren mit Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt hat der Bundestag am Mittwoch Olaf Scholz zum vierten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik gewählt. Mit der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP übernimmt zum ersten Mal seit mehr als 60 Jahren ein Dreierbündnis die Regierungsgeschäfte im Bund. Die von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) ernannten Regierungsmitglieder, die auf Basis des Koalitionsvertrages „Mehr Fortschritt wagen“ wollen, bilden das erste paritätisch mit Frauen und Männern besetzte Kabinett.
Die perfekt inszenierte Regierungsbildung der Ampel-Koalitionäre hat unter strikter Einhaltung professioneller Diskretion nur etwas mehr als zwei Monate in Anspruch genommen, obwohl hinter den Kulissen dicke Bretter gebohrt werden mussten, um zu einer gemeinsamen Fortschrittserzählung zu finden. Die geräuschlose Übergabe der Macht, die mit einem gemeinsamen Auftritt von Merkel und Scholz beim G20-Gipfel in Rom schon Ende Oktober auf internationalem Parkett zelebriert wurde, sorgte weltweit für respektvolles Staunen. Mancher Beobachter mag die politische Kultur in Berlin als zu pomadig verspotten. Auch der Tag gestern machte deutlich, dass sie ein Pfund für Deutschland als Stabilitätsgarant in Europa ist.
Nach der Feierstunde der Demokratie mit der Vereidigung der neuen Regierung muss die Ampel jetzt schneller als die meisten Vorgängerregierungen in den Arbeitsmodus finden. Eine Schonfrist von 100 Tagen wird es nicht geben. Vor allem die Corona-Pandemie und die zugespitzte Lage im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine stellen die Regierung Scholz sofort auf die Probe. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) muss den Nachweis erbringen, dass er nicht nur fundiert vor den Gefahren der Pandemie warnen kann, sondern auch wirksame Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auf den Weg bringt. Die erste deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die nach dem durchwachsenen Wahlkampf in der Hierarchie der Grünen hinter Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck zurückgefallen ist, mit dem sie sich künftig die Zuständigkeit für die Klimapolitik teilt, muss ebenfalls im Eiltempo ihre Rolle finden. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ließ bereits ausrichten, dass die Außenpolitik über das Kanzleramt gesteuert wird, worauf der bisherige außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, der sich um den Parteivorsitz bewirbt, postwendend kontra gab. Das außenpolitische Dossier der Ampel, das auch eine Neujustierung des Verhältnisses zu China und Russland vorsieht, erfordert einen gemeinsamen Kurs.
Und was ist mit dem Fortschritt? Den wird die neue Regierung nicht nur wagen, sondern auch finanzieren müssen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) will sein Ressort deshalb als „Ermöglichungsministerium“ verstanden wissen. Das rhetorische Talent Lindners ist schon seit längerem bekannt. Spätestens mit dem Start der Debatte über den Nachtragshaushalt in der nächsten Woche wird sich Lindner aber an der Spitze des In-der-Wirklichkeit-ankommen-Ministeriums wiederfinden. Denn die Spielräume für die neue Regierung bewegen sich angesichts der gewaltigen Investitionsvorhaben unter anderem für Klimaschutz und Digitalisierung in engen Grenzen, die den Ampel-Koalitionären noch viele schmerzhafte Entscheidungen abfordern werden. Die gemeinsame Erzählung von Fortschritt und Modernisierung muss die Ampel jedenfalls noch mit konkreten Vorhaben unterlegen, die solide finanziert sind.
Die Neugier in der Bevölkerung auf die Ampel scheint nach dem zögerlichen Handeln in der Coronapolitik bereits verflogen. Nur etwa mehr als jeder Zehnte glaubt, dass Scholz das Land besser regieren wird als seine Vorgängerin. Gerhard Schröder, dem bisher letzten Kanzler der SPD, trauten das 1998 zum Start von Rot-Grün 27% zu. Eine nüchternere Erwartungshaltung passt aber ohnehin besser zum nüchternen Scholz, der im Sommer eine Chance ergriff, die es nach Einschätzung der meisten politischen Beobachter gar nicht gab. In den Koalitionsverhandlungen hat er bewiesen, dass sein Führungsstil einem Dreierbündnis gewachsen ist, in dem die stärkste Partei über weniger Stimmen als die beiden kleineren Partner zusammen verfügt. Bewahrt die Ampel ihre Geschlossenheit, könnte sich diese Konstellation als produktiv erweisen und den Regierungsparteien zum nächsten Wahltermin wieder einen Tag der Blumensträuße bescheren.