KommentarEU-Defizitverfahren

Der überschätzte Stabilitätspakt

Die EU-Kommission hat bei der erstmaligen Anwendung der neu gefassten EU-Schuldenregeln vieles richtig gemacht. Aber deren Wirkung wird von Anhängern wie Gegnern des Stabilitätspakts überschätzt.

Der überschätzte Stabilitätspakt

EU-Defizitverfahren

Der überschätzte Stabilitätspakt

Von Detlef Fechtner

Um es gleich vorauszuschicken: Die EU-Kommission hat bei der erstmaligen Anwendung der erst jüngst neu gefassten Schuldenregeln vieles richtig gemacht. Vor allem, weil sie sich nicht gescheut hat, dem Rat die Eröffnung eines Verfahrens gegen Frankreich zu empfehlen, auch wenn dort der Wahlkampf tobt. Die Daten und Prognosen für die Neuverschuldung sind im französischen Fall schlichtweg zu eindeutig. Hätte Brüssel kein Defizitverfahren gegen Paris auf den Weg gebracht, wäre die ganze haushaltspolitische Überwachung der EU komplett unglaubwürdig gewesen.

Das Gleiche gilt im Übrigen für Italien. Auch dort kann man das Defizit nicht als nur „kurzzeitig“ oder „besonderen Ausnahmen geschuldet“ oder „nah am Referenzwert“ schönreden. Und da noch dazu die Schuldenberge in Frankreich und Italien ohnehin schon viel zu hoch sind, gab und gibt es keine Alternative zu dem, was die EU-Kommission getan hat, nämlich den entscheidenden Schritt hin zur Eröffnung eines EU-Verfahrens zu gehen.

Wird jetzt alles gut? Na ja, schaun mer mal. Im weiteren Verlauf des Verfahrens müssen die nationalen Regierungen zwar konkrete Maßnahmen zusagen, wie sie die Neuverschuldung verringern wollen. Aber die Erfahrung zeigt, dass der Brüsseler Druck selten stark genug ist, um Regierungen zu umfassenden Anpassungen ihrer Haushaltspolitik zu bewegen. Kürzer gesagt: Niemand sollte die tatsächliche Wirkung eines Defizitverfahrens überschätzen.

Das gilt spiegelbildlich übrigens auch für diejenigen Politiker der Linken oder der Grünen, die behaupten, die nun in die Wege geleiteten Defizitverfahren würden die Konjunktur abwürgen, Innovationen ausbremsen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas ruinieren. Auch das ist, mit Verlaub, eine maßlose Überschätzung.

Wahrscheinlich ist es sogar eine Überschätzung, wenn man vermutet, Defizitverfahren würden einer nationalen Regierung im öffentlichen Ansehen schaden. Das ist allein deshalb fraglich, weil kaum ein Bürger mehr versteht, was ein Defizitverfahren bedeutet – erst recht nicht, da der Stabilitätspakt so oft reformiert wurde. Aber vielleicht ist es ja gerade deswegen überhaupt nur möglich gewesen, sich vor wenigen Monaten auf eine Neufassung der Schuldenregeln zu verständigen: Weil jedem Beteiligten ohnehin klar war, dass der Pakt – etwa bei der Differenzierung zwischen (abzugsfähigen) Verteidigungsinvestitionen und (nicht abzugsfähigen) Verteidigungsausgaben – noch immer genug Interpretationsspielräume enthält, um bei Bedarf auch übermäßige Defizite zu rechtfertigen.

Es gibt noch immer genug Interpretationsspielräume, um bei Bedarf übermäßige Defizite zu rechtfertigen.