LeitartikelKünstliche Intelligenz

Deutschland verspielt nächste technologische Chance

Politik und Wirtschaft verspielen die nächste technologische Chance, weil sie die strukturverändernde Macht der KI unterschätzen.

Deutschland verspielt nächste technologische Chance

Künstliche Intelligenz

Deutschlands dystopische Zukunft

Politik und Wirtschaft verspielen die nächste technologische Chance, weil sie die strukturverändernde Macht der KI unterschätzen.

Von Stephan Lorz

Schöne heile Welt: Autos fahren ihre Fahrgäste autonom ans Ziel, moderne Diagnosewerkzeuge schaffen maßgeschneiderte Medikamente, die Hightech-Fabrik produziert eigenständig immer weiter optimierte Produkte, und um Bürokratie kümmert sich der Computer. Die Arbeitsplätze sind sauber, künstliche Intelligenz hat die Fachkräftelücke geschlossen und die enorme Produktivität erlaubt auch die Finanzierung hoher sozialer Standards. Und mit einer KI-Steuer war es sogar möglich, die Steuerlast für den Faktor Arbeit zu senken.

Düstere, kaputte Welt: Der Einzug der KI hat Millionen von Menschen ihrer Jobs beraubt, sie zum „Proletariat“ abgestempelt. Die Masse muss sich jetzt in niedrig bezahlten Handwerksberufen neu orientieren, wo es noch auf Geschicklichkeit ankommt. Es sei denn, sie haben sich rechtzeitig fortbilden lassen, um die wenigen besonders gut bezahlten Jobs zu ergattern für die Steuerung der KI-Prozesse. Die Produktivität ist förmlich explodiert, sodass die Kapitalrenditen in den Himmel geschossen sind. Die Reichen wurden noch reicher, die Armen noch ärmer. Unruhen drohen.

Zwei Zukunftsvarianten, die eher nicht eintreten. Doch klar ist: KI wird die Produktivität steigern und Prozesse optimieren, Berufsbilder ändern, neue Produkte entwickeln, Wissenschaft beschleunigen und schöpferische Tätigkeiten unterstützen. Sie wird auch Gefahren heraufbeschwören: Überwachung, soziale Manipulation, Menschen digital ausbeuten und infiltrieren. Und es werden Jobs verloren gehen: in Büros, Fabriken und der Kreativwelt.

Um diese Entwicklung in eine menschenfreundliche Richtung zu lenken, muss sie gesteuert werden. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob die deutsche Gesellschaft sich der Dramatik bewusst ist. In Umfragen etwa von Bitkom oder der Unternehmensberatung EY rechnen die Menschen zwar mit beruflichen Auswirkungen, messen ihnen auf ihren eigenen Job – anders als im Ausland – aber meist keine so große Relevanz bei. Viele lehnen KI einfach rundweg ab. Aber auch die Unternehmen in der deutschen Nachbarschaft gehen bei der KI-Integration schneller und konsequenter vor als hierzulande. Vor allem achten sie auf die Einbindung der Mitarbeiter, wie eine EY-Umfrage zeigt. Man scheut die Investitionen, die Kommunikation mit den Mitarbeitern, den Bruch mit etablierten Prozessen und letztendlich auch das Risiko.

Auch die Gelder, die in Europa für KI in Forschung, Entwicklung und Implementation ausgegeben werden, sind eher unterdimensioniert: Während 2023 in den USA rund 68 Mrd. Dollar investiert wurden, waren es hier (samt Großbritannien) nur 11 Mrd. Dollar. Und die politische Sphäre? Die EU-Kommission will jährlich 1 Mrd. Euro spendieren – doch das passiert offenbar „unkoordiniert“, mit geringer Wirkung, wie der Europäische Rechnungshof moniert. Jedenfalls nicht genug, um sich auch nur ansatzweise auf tektonische Veränderungen vorzubereiten. Und gefährlich, weil dann von ganz allein die Dystopie real wird: Die Jobs gehen hier verloren, werden anderswo geschaffen. Die Standorte Europa und Deutschland wurden schon bei anderen technologischen Trends nach hinten durchgereicht. Es bildeten sich keine neuen Technologie-Cluster, aus denen neue Weltkonzerne erwachsen wären. Haben wir nicht daraus gelernt?

Erneut scheint es hauptsächlich darum zu gehen, dass mit der Gesetzgebung (AI-Act) eher das Schlimme verhindert werden soll, als eine neue Entwicklung zu fördern und befördern. Wollte sich Europa tatsächlich fit machen für KI, müsste der Kontinent schnellstmöglich den Datenschutz vereinheitlichen und einen digitalen Binnenmarkt für Daten und Netze schaffen. Das wäre dann auch für Investoren attraktiv – selbst unter europäischem Recht, etwa bei Daten- und Urheberschutz. Das wäre allemal besser als der Ist-Zustand, da die Digitalkonzerne sich aktuell kaum ums Urheberrecht scheren und einen Datenraubzug ohnegleichen durchführen beim Anlernen ihrer KI-Maschinen. Wollen wir tatsächlich von asiatisch und amerikanisch geprägten KI-Superintelligenzen künftig nach deren Maßstab beurteilt, ausgebeutet und geformt werden? Wo bleibt das Aufbruchssignal?

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