Die Schuldenquoten in Europa steigen – na und?
Zum Ende des Corona-Jahres 2020 betrug die offizielle Schuldenquote der Euro-Staaten 98%. Wie nach der Finanz- und Eurokrise mehren sich die Sorgen, dies könnte negative Folgen für Wirtschaftswachstum, Schuldentragfähigkeit und die zukünftige Fiskalpolitik haben. Denn hohe Schulden belasten das Wachstum, da der Staat private Investitionen verdrängt, so zumindest die klassische volkswirtschaftliche Theorie. Doch die Realität sieht anders aus.
Weder verdrängen höhere Staatsschulden private Investitionen, noch führen sie zu steigenden Zinsen. Denn in einer Währungswelt ohne Golddeckung muss nicht gespart werden, damit investiert werden kann. Investiert wird, wenn Nachfrage da ist. Die benötigte Liquidität stellen Kreditinstitute bzw. Notenbanken zur Verfügung. Der Verweis auf eine maximal akzeptable Höhe der Schuldenquote ist folglich ebenfalls wenig schlüssig. Auch verliert die Höhe der Schuldenquoten in Anbetracht der Bilanzausweitung bedeutender Notenbanken grundsätzlich an Aussagekraft.
EZB ist größter Gläubiger
Denn die EZB ist dank ihrer Ankaufprogramme inzwischen zum größten Gläubiger aller Euro-Staaten geworden. EZB und lokale Notenbanken besitzen zwischen 20 und 40% der emittierten Anleihen. Wird dieser Anteil der Staatsschulden herausgerechnet, ergibt sich eine Schuldenquote für die Eurozone von knapp über 70% – das Niveau von vor der Finanz-, Euro- und Coronakrise. Deshalb ist die Schuldenthematik im Euroraum weniger kritisch zu betrachten, als offizielle Schuldenquoten und Zinszahlungen vermuten lassen.
Befürchtungen, die EZB könne ihre Bilanz reduzieren, sind unangebracht, da die Notenbank nur in einem Umfeld von robustem Wachstum bzw. konjunktureller Überhitzung entsprechend agieren würde. Dann würde die Schuldenquote aber sowieso sinken. Schließlich ist vor allem Wachstum erforderlich, um die Schuldenquote nachhaltig zu senken, und nicht Sparen.
Viele Volkswirte betrachten die EZB zwar als notwendigen Retter in der Not, fühlen sich damit allerdings nicht wohl. In den letzten 35 Jahren genoss der Werterhalt des Geldes bei den Notenbanken alleinige Priorität. Die Definition von Inflationszielen und die operative Unabhängigkeit der Notenbank dienten vor allem diesem Ziel. Geldpolitik zur Unterstützung der Fiskalpolitik galt in diesem Umfeld als Sakrileg und noch immer finden Protagonisten des Goldstandards Zuhörer.
Das zugrunde liegende Ideal ist eine Notenbank, deren Geldpolitik kaum volatil bzw. eher passiv ausgerichtet ist und so einen „Stabilitätsanker“ darstellt. Auch aktuell ist die Erwartungshaltung verbreitet, die Notenbank solle wieder zu einer normalen bzw. passiven Geldpolitik zurückkehren.
Die Corona-Pandemie hat jedoch weltweit Notenbanken gezwungen, neue Wege zu gehen. Wie so oft führte eine Krise dazu, Prinzipien zu hinterfragen und das in der jeweiligen Situation Angemessene zu tun. Deshalb ist die aktuelle Krise ein positiver Katalysator, um die EZB und andere Notenbanken aus ihrer selbst auferlegten Gedankenfestung zu befreien. In der Eurokrise musste das Eurosystem erst am Abgrund stehen, bevor die EZB bereit war, alles Notwendige zu tun. Jetzt überschreitet sie mit dem Ausmaß ihres Ankaufvolumens womöglich sogar das Notwendige und gibt der Fiskalpolitik trotz steigender allgemeiner Schuldenquoten Raum für eine wachstumsorientierte Politik. Und das ist gut so.
In einer Krise steigen die Schuldenquoten zwangsläufig, weil es darum geht, die Wirtschaft „zum Laufen“ zu bringen und zu stützen. Doch was muss passieren, wenn die Konjunktur sich gefangen hat? Bedarf es wirklich einer Konsolidierung, um wieder „ordentliche Verhältnisse“ herzustellen, wie die Befürworter der Schuldenbremse fordern? Kann es überhaupt wirtschaftliche Stabilität geben, wenn die Schuldenquoten niedrig sind, die Notenbank ihrem Prinzip der Passivität nacheilt, die Arbeitslosigkeit aber hoch ist bzw. nötige Staatsausgaben und Investitionen fehlen?
Inflation nicht überbewerten
Wohl kaum. Es darf auch nicht das Prinzip gelten, dass Geld, das in der Krise ausgegeben wurde, nachher wieder eingespart werden muss. Nur eine stark steigende Inflation sollte die Notenbank daran hindern, ihre Bilanzausweitung voranzutreiben oder stabil zu halten. Eine solche Inflationsentwicklung wäre aber nur bei robustem Wachstum zu erwarten. Grundsätzlich sollte das Inflationsrisiko infolge einer ansteigenden Notenbankbilanz nicht überbewertet werden. So hält die japanische Notenbank inzwischen rund 50% der emittierten Anleihen des japanischen Staates. Und noch immer kämpft sie eher mit Deflation.
Die Gesamtheit der Schulden in der Eurozone ist zwar deutlich angestiegen, doch anders als nach der Finanzkrise bleiben die Renditen relativ niedrig. Warum? Weil die EZB seit der Draghi-Aussage „whatever it takes“ und vor allem mit der Expansion des PEPP-Programms zu einer effektiven Notenbank der Euro-Staaten geworden ist. Folglich ist die Sorge, mit eskalierenden Schuldenquoten könne sich wieder eine Euro- und damit Schuldenkrise entwickeln, unbegründet.
Auch hat die Pandemie eine Investitions- und Wiederaufbauinitiative in Europa forciert, die der Eurozone in den kommenden Jahren viel Rückenwind geben sollte. Allerdings hat die Eurozone ein strukturelles Nachfrageproblem, wie am Handelsbilanzüberschuss zu erkennen ist. Hinzu kommt die zunehmende Bedeutung der Finanzindustrie, die Geld für Investitionen in die Realwirtschaft zu spekulativen Finanzinvestitionen umlenkt. Angesichts dessen sind Notenbank und Staat gefordert, grundsätzlich ausreichend Nachfrage zu generieren. Die EZB schafft hierfür den Raum. Der Staat sollte ihn nutzen.
Dr. Klaus Bauknecht ist Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank.
In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.