Energiemärkte

Die Zukunft der europäischen Gasversorgung

Russlands Angriffskrieg führt zu gewaltigen Umbrüchen im EU-Gasmarkt. Mittelfristig wird immer mehr Pipeline-Gas durch LNG ersetzt. Damit wird auch ein Stück weit das Erbe des Ruhrgas-Konzerns rückabgewickelt.

Die Zukunft der europäischen Gasversorgung

Der einst traditions- und ruhmreiche Name Ruhrgas ist in der deutschen Wirtschaftslandschaft schon seit knapp zehn Jahren nicht mehr präsent. Der lange Jahre größte deutsche Gaskonzern ist längst zerschlagen. Seien Einzelteile haben neue Namen und sind in andere Unternehmen eingegliedert worden. Und doch ist es hilfreich, sich noch einmal an Ruhrgas zurückzuerinnern. Denn der Essener Versorger hatte einen entscheidenden Anteil daran, dass Deutschland und damit auch ganz Europa heute in der vielleicht schwersten Energiekrise nach dem Zweiten Weltkrieg stecken.

Es war Ruhrgas, die 1970 zusammen mit Mannesmann und der Deutschen Bank die Verträge zu den deutsch-sowjetischen Röhren-Erdgas-Geschäften festzurrte: die ersten großen Gaslieferverträge mit der damaligen Sowjetunion. Die Geschäfte mit Moskau baute Ruhrgas dann schrittweise immer mehr aus. Dem Ferngaskonzern gehörten schon bald Tausende Kilometer an Pipelines. Als Eon 2003 die Übernahme mit Hilfe einer Ministererlaubnis gelang, war Ruhrgas längst der beherrschende, fast schon monopolartige Gasnetzbetreiber in Deutschland, über den auch ein wesentlicher Teil der deutschen Gasimporte aus Russland lief.

Unter der Führung von Eon wurde dann das ganz große Rad gedreht: Im September 2005 wurde (gemeinsam mit BASF) der Vertrag über den Bau der Nord-Stream-Pipeline mit der staatlichen russischen Gazprom unterzeichnet. Von politischer Seite waren damals mit dabei: Gerhard Schröder und Wladimir Putin. 2009 folgte dann der nächste Coup: eine 25-%-Beteiligung am sibirischen Gazprom-Feld Juschno Russkoje. Ruhrgas hatte damit Zugriff auf eines der größten Erdgasfelder der Welt.

Das Überleben sicherte das alles nicht: 2012 stieß Eon die Ruhrgas-Pipelines und Gasspeicher unter dem Namen Open Grid Europe ab. Ruhrgas blieb nur noch der Gashandel, und der ist heute längst in einem Unternehmen verschmolzen, das ebenfalls einst zu Eon gehörte: Uniper, der Konzern, der wegen der aktuellen Gaskrise, an der Ruhrgas alles andere als unschuldig war, verstaatlicht werden muss. Rund ein halbes Jahrhundert nach dem deutsch-sowjetischen Röhren-Erdgas-Geschäft schließen sich hier wieder so einige Kreise.

And the winner is: USA

Aber nicht nur für Uniper, sondern für die gesamte europäische Gaswirtschaft bedeutete der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres eine Zäsur. Vorbei war das über viele Jahre verbreitete Narrativ der Branche, die Gasversorgung aus Russland sei durch keinerlei politische Krisen zu gefährden – dies hätten bereits die kältesten Kalte-Krieg-Zeiten gezeigt. Denn schließlich hätten beide Seiten ein wirtschaftliches Interesse daran, dass die Gasgeschäfte trotz allem immer ohne jegliche Störungen verliefen. Seit dem 24. Februar versucht die Politik in Berlin, in Brüssel und in den anderen europäischen Hauptstädten, die diesem Narrativ immer geglaubt hatten, die Fehler der Vergangenheit hektisch zu korrigieren und sich aus den Abhängigkeiten von russischen Energielieferungen zu befreien. Deutschland, der nach absoluten Mengen mit Abstand größte Importeur von russischem Erdgas in der EU, bezog 2021 rund 55 % seines Gases aus Russland. Ruhrgas hatte diesbezüglich ganze Arbeit geleistet.

Der Gasmarkt in Europa, der in den nächsten Jahren nun vor gewaltigen Umbrüchen steht, war allerdings auch schon vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine in Unordnung geraten. Lag das durchschnittliche Großhandelspreisniveau im OTC-Day-Ahead-Markt (TTC) 2018 noch bei etwa 24 Euro je Megawattstunde (MWh), wurde 2021 im Schnitt bereits mehr als das Doppelte verbucht (54 Euro/MWh). Auch im vergangenen Jahr wurde Russland schon Marktmanipulationen vorgeworfen. Im Zuge des Ukraine-Krieges wurden im August nun zeitweise Spitzenwerte von über 300 Euro/MWh aufgerufen. Dies treibt über die Merit Order auch die Strompreise in immer neue Höhen. Dies lässt die Energierechnungen der privaten Haushalte explodieren und mittlerweile immer mehr Unternehmen angesichts der Strom- und Gaskosten in die Knie gehen. Und dies lässt immer mehr verzweifelte Regierungen über Gaspreisdeckel und Gewinnabschöpfungen nachdenken.

Bereits die Halbjahresstatistiken 2022 zeigen heftige Verschiebungen bei den Gasimporten in die Europäische Union: Der Anteil Russlands sackte von 47 % im Vorjahr auf 34 % ab. Dies lag an geringeren Verbräuchen, vor allem aber daran, dass der Kreml selbst die Lieferungen gedrosselt und in etliche EU-Länder auch irgendwann ganz eingestellt hat. Denn auf ein Gasembargo konnte sich die EU aus gutem Grund nie einigen. Seit Ende Juni gehen die Gaslieferungen aus Russland noch stärker zurück. Mitte September sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union davon, dass nur noch 9 % des Pipeline-Gases aus Russland komme.

Eine kleinere Kompensation kam bislang aus Norwegen, das seinen Anteil an den Gasimporten in die EU im ersten Halbjahr von 18 auf 23 % erhöht hat. Noch stärker fielen aber die Veränderungen bei verflüssigtem Erdgas aus, dem sogenannten LNG (Liquefied Natural Gas), das seinen Importanteil von 20 auf 30 % steigern kannte. Dass dieser Trend vom Pipeline-Gas hin zu LNG auch langfristig das bestimmende Merkmal des Umbruchs in der Branche sein wird, davon sind internationale Energieexperten durch die Bank überzeugt. Einer neuen Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) zufolge könnte der Anteil des Pipeline-Gases in der EU bis 2030 auf unter 40 % fallen und sich damit in etwa halbieren.

Großer Gewinner dieser Entwicklung sind die USA. Nach Zahlen der EU-Agentur für die Kooperation der Energieregulatoren (Acer) haben sich die Amerikaner mit ihrem Fracking-Gas im ersten Halbjahr 2022 bereits einen Importanteil von 18 % in ganz Europa (also inklusive Großbritanniens und einiger Nicht-EU-Ländern) gesichert. In den ersten sechs Monaten 2021 waren es lediglich 7 % gewesen. Laut der EWI-Studie könnten die USA mit LNG bis 2030 einen Importanteil in der EU von 40 % erreichen und so größter Gaslieferant der Union werden.

Wie genau die Machtverhältnisse auf dem europäischen Gasmarkt gegen Ende der Dekade aussehen werden, hängt allerdings noch stark davon ab, ob russisches Gas bis dahin komplett oder nur teilweise abgeknipst wird, mit welchen Investitionen genau die Gasinfrastruktur in der EU gestärkt wird und vor allem wie sich die Nachfrage entwickelt. Dass es beim bisherigen Nachfrageniveau (2021) von rund 400 Mrd. Kubikmetern (m3) bleibt, ist nämlich kaum zu erwarten. Nach Schätzungen der EU-Kommission wird allein das große Klimapaket „Fit for 55“, das derzeit noch den europäischen Gesetzgebungsprozess durchläuft, den Gasverbrauch bis 2030 um rund 100 Mrd. m3 drosseln. „Fit for 55“ war für den Kreml schon immer eine Bedrohung für die eigenen Energiegeschäfte gewesen.

Im Frühjahr hat die Kommission dann noch einmal das Programm „Repower EU“ nachgeschoben, das speziell dazu aufgelegt wurde, die Energiewende nach dem Angriff auf die Ukraine zu beschleunigen, damit sich die EU möglichst schnell aus der Abhängigkeit von russischen Importen lösen kann. Dieses Programm könnte die EU-Gasnachfrage um weitere 25 Mrd. m3 verringern. Komplett ohne russisches Pipeline-Gas und bei einer um 20 % niedrigeren Nachfrage könnte Europas Gasversorgung 2030 vor allem von den USA gesichert werden mit Lieferungen von dann 107 (2021: 22) Mrd. m3, von Norwegen mit 101 (82) Mrd. m3, von Katar mit 18 (17) Mrd. m3 sowie aus Nordafrika, dessen Importanteil auf 29 (46) Mrd. m3 sinkt.

Je stärker russisches Gas in dieser EWI-Simulation berücksichtigt würde, umso stärker würde dies den US-Anteil drücken. Dass Europa aber weit vor 2030 russische Gaslieferungen komplett ersetzen und damit auch seine Versorgungssicherheit in diesem Bereich komplett neu ausbalancieren könnte, zeigen auch andere Analysen, wie etwa eine erst in dieser Woche veröffentlichte Studie von Rystad Energy im Auftrag der International Oil & Gas Producers (IOGP) Europe und des American Petroleum Institute (API).

Um dies zu erreichen, müsse man aber sofort handeln, um die heimische Produktion zu unterstützen, langfristige LNG-Verträge zu sichern und verbleibende Engpässe in der Infrastruktur zu beheben, drängte IOGP-Europadirektor François-Régis Mouton und setzte der Politik in Brüssel und den EU-Ländern quasi die Pistole auf die Brust: „Jede weitere Verzögerung wird das wirtschaftliche und soziale Leid, das unser Kontinent derzeit erfährt, verstärken und das Risiko anhaltender und struktureller Schäden erhöhen. Besonders hart trifft es die Industrie.“

Der Verband rechnet ohnehin damit, dass der Gasmarkt noch bis 2025 angespannt bleibt. Erst danach, also 2026/27, stünden so große Gasmengen zur Verfügung, dass der Markt wieder ins Gleichgewicht komme mit Bedingungen, wie es sie vor der Coronakrise gegeben habe.

Beim Thema Gaspreisentwicklung erwarten auch die EWI-Experten keine kurzfristige Besserung: Ohne russisches Gas würde selbst bei einer Nachfragesenkung um 20 % auch 2026 mit 51 Euro/MWh noch in etwa das Preisniveau von 2021 verlangt, so die EWI-Experten. Erst 2030 wäre das Preisniveau aus dem Jahr 2018 wieder erreicht. Sollte die Nachfrage nicht sinken, wären laut EWI auch 2026 noch durchschnittliche Preise von 93 Euro/MWh denkbar. Diese Aussichten sind gerade für die Gasverbraucher in der Industrie mehr als erschreckend.

Bei den Investitionen, die den europäischen Gasmarkt fit für die Zukunft machen sollen, geht es zum einen um punktuelle Nachbesserungen im Pipelinenetz, beispielsweise durch das auch von Bundeskanzler Olaf Scholz schon geforderte Midcat-Projekt, bei dem eine neue Gasröhre von Spanien über die Pyrenäen bis nach Deutschland verlegt werden soll. Im Wesentlichen geht es aber um den Ausbau von Regasifizierungsanlagen. Derzeit verfügt Spanien zwar über eine ausreichend große Infrastruktur, um pro Jahr 60 Mrd. m3 verflüssigtes Erdgas aufnehmen zu können. Die Weiterleitung in andere EU-Länder ist aber kaum möglich. Frankreich hat immerhin noch Kapazitäten von 35 Mrd. m3 und Italien von 17 Mrd. m3. Bis 2026 holen nun andere Länder in Eile solche LNG-Investitionen nach. Die Bundesregierung will Kapazitäten von 25 Mrd. m3 aufbauen, Belgien und die Niederlande von 15 Mrd. m3, und Italien würde seine Kapazitäten wohl verdoppeln, wenn russisches Erdgas sicher ausfallen würde.

LNG statt Pipeline-Gas

Auf der anderen Seite gibt es auch viel Bewegung in den Gasexportländern. Experten schätzen, dass die Verflüssigungskapazitäten weltweit bis 2030 um zwei Drittel steigen werden, insbesondere in den USA, aber auch in Australien oder Katar.

Die deutsche Lobbyvereinigung „Zukunft Gas“ verweist aber darauf, dass diese Investitionen, die deutlich höher sind als für Regasifizierungsanlagen, nur getätigt werden, wenn es auch klare politische Signale für einen LNG-Ausbau gibt. „Die Marktkräfte allein sorgen nicht für eine ausreichend diversifizierte Gasbeschaffung“, warnte jüngst Verbandsvorstand Timm Kehler. Eine nationale Strategie zur Gestaltung des zukünftigen Gas-Portfolios sei daher nötig. „Die neuen Energiepartner erwarten ihrerseits stabile Signale für langfristige Investitionen.“

Der globale Ausbau des LNG-Marktes könnte preisdämpfend wirken – auch wenn verflüssigtes Erdgas grundsätzlich teurer ist als Pipeline-Gas. Worauf Kehler aber auch verweist, auch im Zusammenhang mit den aktuellen Diskussionen um Preisdeckel in Europa: Gaspreise hingen im Endeffekt an der Entwicklung der globalen Nachfrage. Und diese werde insbesondere durch Asien bestimmt. Europa steht nämlich lediglich für 13 % der weltweiten Gasnachfrage.

Es gibt eine Zukunft der europäischen Gasversorgung gänzlich ohne russische Erdgaslieferungen – so viel scheint gut sieben Monate nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine festzustehen. Von daher könnten sich die Sorgen über die mutmaßlichen Sabotage-Akte gegen die beiden Nord-Stream-Pipelines eigentlich in Grenzen halten. Aber die Unsicherheiten sind weiterhin groß.

Nicht geklärt ist auch, ob die Ukraine selbst mit ihren großen Gasvorkommen mittelfristig zur Versorgung der EU beitragen könnte. Und auch die Rolle der heimischen Gasproduktion in der EU ist noch unklar. In den Niederlanden könnte etwa die Produktion im Gasfeld Groningen über 2022 hinaus fortgesetzt werden. Das Potenzial schätzen Experten auf bis zu 30 Mrd. m3 pro Jahr. Und theoretisch könnte auch Deutschland noch einmal neu über das Thema Fracking nachdenken. Die in dieser Woche veröffentlichte Rystad-Energy-Studie schätzt, dass es hierbei bis 2025 um ein jährliches Potenzial von bis zu 10 Mrd. m3 geht.

Von Andreas Heitker, Brüssel

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