Digitale Grenzziehungen
Wenn in späteren Zeiten einmal die Arbeit der EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen bewertet wird, dürften neben dem Handeln in aktuellen Krisen (Pandemie, Krieg) vor allem die Fortschritte im Fokus stehen, die der Brüsseler Behörde in der Klimapolitik und bei der Digitalisierung gelungen sind. Was dann über die grüne Wende gesagt wird, ist noch längst nicht klar. Das hierfür zentrale, komplexe Gesetzgebungspaket „Fit for 55“ befindet sich noch in einer schwierigen Abstimmungsphase. Im Bereich der Digitalregulierung ist hingegen bereits ein echter Meilenstein erreicht: Nachdem die EU-Gesetzgeber Ende März schon eine politische Einigung über den Digital Markets Act (DMA) erreicht hatten, gelang jetzt auch die Verständigung zum ergänzenden Paket, dem Gesetz über digitale Dienste (DSA). Die Vorlagen für diese auch international bislang einmalige Regulierung des Internets hatte die Kommission vor nicht einmal eineinhalb Jahren geliefert – für Brüsseler Verhältnisse war das ein Verfahren auf der Überholspur.
Wie überfällig es war, der Marktmacht der Big-Tech-Konzerne etwas entgegenzusetzen und den Online-Marktplätzen, Social-Media-Plattformen, großen Suchmaschinen und sonstigen digitalen Diensten klare Regeln zu geben, zeigt nicht allein die Tatsache, dass nun eine EU-Richtlinie ersetzt wird, die schon Jahre vor der Markteinführung des ersten iPhone in Kraft getreten war. Auch die zunehmend negativen Erfahrungen, die westliche Demokratien in der zurückliegenden Dekade mit Desinformationen und Fake News, mit Hassrede, Hetze und Manipulationen im Internet gesammelt haben, zeigten den drängenden Handlungsbedarf. Algorithmen, die emotionalisierende und wutgesteuerte Beiträge auf den Social-Media-Kanälen befeuern, oder Filterblasen, die Parallelgesellschaften fördern, haben die Spaltungen in den Bevölkerungen vorangetrieben, haben Wahlen beeinflusst und die politischen Diskurse unversöhnlich gemacht.
Margrethe Vestager, dänische Vizepräsidentin der EU-Kommission, verwies nach der DSA-Einigung noch aus dem Verhandlungssaal in einem Twitter-Video darauf, dass jetzt endlich online illegal werde, was auch schon offline illegal sei. „Die Demokratie ist zurück“, lautete Vestagers Fazit. Viel mehr ist zur Bedeutung dieses Deals kaum zu sagen.
Mit den Gesetzen für digitale Märkte und über digitale Dienste werden die Regeln für das Internet in Europa komplett neu geschrieben und die Grenzen vom Online-Handel bis hin zur Meinungsfreiheit im Netz neu gezogen. Dies gibt Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Die EU-Kommission hat dabei zum Glück auch von den Fehlern gelernt, die im Zuge der Datenschutzgrundverordnung gemacht wurden und die sehr unterschiedliche Umsetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten möglich gemacht hatten. Dies wird es beim DMA und beim DSA nicht geben und die Brüsseler Behörde zugleich eine zentrale Rolle bei der Aufsicht der großen Plattformen erhalten.
Innerhalb Europas hatte die Bundesregierung mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) bereits wichtige Vorarbeit geleistet. Die neuen Digitalregeln der EU könnten nun aber auch weltweit Maßstäbe setzen. Vor allem in den USA, der Heimat der großen Technologieunternehmen, wird ja noch um eine geeignete Regulierung der Digitalkonzerne gerungen. Von Barack Obama über Hillary Clinton bis hin zur Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen – es gab in den vergangenen Tagen daher auch von vielen Seiten Kredit für die Gesetzgeber in Brüssel und ihre Bedeutung als Vorbild auch für die USA.
Inwieweit die reibungslose Umsetzung der neuen Digitalregeln in Europa gelingt, bleibt allerdings erst einmal abzuwarten. Denn die Öffnung der Algorithmen-Blackbox, die Beschneidung der Geschäftsmodelle der Big Techs, die neuen regelmäßigen Risikofolgenabschätzungen bei den großen Online-Plattformen, das Verbot des manipulativen „Dark Patterns“ oder auch die deutliche Eingrenzung von personalisierter Werbung hören sich erst einmal gut und richtig an. Doch einiges vom Erfolg dieser Maßnahmen wird auch von der konstruktiven Mitarbeit der Konzerne abhängen. Auch das erhoffte schnelle Löschen illegaler Inhalte könnte noch für Diskussionen sorgen. Denn was in den einzelnen EU-Ländern offline als illegal gilt, ist durchaus unterschiedlich. Beim DSA muss aber online eine europaweit einheitliche Linie gelten. Und auf klare Fristen zur Löschung haben die Gesetzgeber ohnehin verzichtet.