9-Euro-Ticket

Einfach schlägt billig

Das 9-Euro-Ticket zeigt: Viele Menschen sind bereit, auf den ÖPNV umzusteigen. Wichtiger als der Preis sind dafür aber bundesweit einheitliche Regeln.

Einfach schlägt billig

Erfolg ist immer eine Frage der Perspektive. Wenn also das 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr in den drei Monaten seiner nicht unumstrittenen Existenz rund 52 Millionen Mal verkauft worden ist: Reicht das schon aus, um das Experiment als „Riesenerfolg für die Verkehrswende“ zu feiern, wie es Greenpeace am heutigen Montag formulierte?

Der Blick auf die Details offenbart ein differenziertes Bild: Wer sich vom Nahverkehrsrabatt eine kurzfristige Inflationslinderung versprochen hat, dürfte diese durchaus gespürt haben. Zumal weitere 10 Millionen Menschen, die bereits ein ÖPNV-Ticket abonniert hatten, drei Monate lang weniger bezahlen mussten. Die Kehrseite ist freilich, dass die bevorstehende Rückkehr zur normalen Tarifstruktur auch als zusätzlicher Booster für die Inflationsrate spürbar sein wird.

Wer das 9-Euro-Ticket hingegen als Anreiz für Pendler verstanden wissen wollte, ihr Auto stehen zu lassen, hat kaum neue Argumente gewonnen: Schon der Start des Tickets in die Urlaubszeit hinein präjudizierte eine überschaubare Aussagekraft für den Berufsverkehr. So ergibt eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur denn auch, dass mit rund 25% immerhin genauso viele Menschen das rabattierte Nahverkehrsticket für „touristische Reisen und Ausflüge“ genutzt haben wie für die Fahrt zur Arbeit. Und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) rechnet vor, dass gerade einmal „jeder zehnte Nutzer des Tickets mindestens eine Fahrt mit dem ÖPNV“ gemacht habe, „die er ohne das Ticket im Auto zurückgelegt“ hätte. Ein Zehntel.

Eines aber deuten alle Umfragen immerhin an: Nämlich dass das Ticket durchaus geeignet war, zusätzliche Fahrten auszulösen – nicht zuletzt, weil es einkommensschwachen Menschen endlich eine bezahlbare Form von Mobilität ermöglicht hat. Klagen über eine nicht finanzierbare „Gratismentalität“ sind vor diesem Hintergrund deplatziert – zumal von einem Minister, dessen Tankrabatt Gutverdiener mit großen Autos besonders stark entlastet hat. Der 2,5 Mrd. Euro teure Nahverkehrs-Feldversuch belegt sehr wohl: Ein attraktives Tarifangebot kann die Nutzung des ÖPNV substanziell steigern. Und auch wenn das in den vergangenen Monaten häufig weit über die Kapazitätsgrenzen des Verkehrssystems hinausging: Die Suche nach einer dauerhaften Nachfolgelösung ist richtig und wichtig.

Nur konzentriert sich die Diskussion, wie es nach dem Ende des 9-Euro-Experiments weitergeht, viel zu stark auf den Preis. Ob ein dauerhaft günstiges ÖPNV-Ticket künftig 9, 19 oder 69 Euro im Monat oder aus Liebe zur schönen Marketing-Story 365 Euro pro Jahr kosten soll, ist für die meisten Kunden am Ende vor allem eine Rechenaufgabe. Entscheidender ist die Frage, wie flexibel sie die Fahrkarte einsetzen können. Der besondere Charme des 9-Euro-Tickets ist neben dem Preis vor allem seine bundesweite Gültigkeit.

Als die Münchner Verkehrsgesellschaft Ende 2019 ihr legendär komplexes Tarifnetz modernisierte, berichtete die „Süddeutsche Zeitung“: „Bisher mussten sich die Nutzer von Zeitkarten an 16 ‚Ringen‘ orientieren, Nutzer von Einzeltickets an vier ,Zonen‘ und Kunden mit Tageskarten, Isarcard 9 Uhr oder Isarcard 60 an ‚Räumen‘ – diese Unterscheidung fällt künftig weg. Es gibt fortan für alle nur noch sieben Tarifzonen.“ Besser lässt sich der Zustand des ÖPNV in der Bundesrepublik nicht beschreiben: Schon innerhalb eines Verbundes sind viele Kunden von der Tarifvielfalt und ihren schwer nachvollziehbaren Regeln überfordert. Und die Komplexität einer Reise über die Tarifgrenzen hinweg lässt sich am beklemmend bürokratischen Begriff „Stationen im Übergangsverkehr“ ablesen, die Passagiere bei solchen Fahrten passieren. Irrationale Preissprünge, unnötige Umwege, nicht aufeinander abgestimmte Fahrpläne: Die verkehrspolitische Kleinstaaterei ist ein Hemmnis für den klimagerechten und sozialverträglichen Um- und Ausbau der Mobilitätssysteme.

Notwendig ist nicht weniger als eine Revolution im öffentlichen Verkehr, ein Tarifnetz nach dem Netflix-Prinzip: Erst wenn die Kunden für ihre Monatsgebühr den Komfort genießen, außer der Auswahl des Ziels über nichts nachdenken zu müssen, werden sie den ÖPNV auch außerhalb der Stadtzentren als echte Alternative zum Auto wahrnehmen. Dafür braucht es eine bundesweite, eng abgestimmte Zusammenarbeit der Verkehrsbetriebe, weit über ihre bisherigen Fürstentümer hinaus. Willkommener Nebeneffekt wäre eine Verkehrsplanung, die sich endlich am Bedarf orientiert – und nicht an den Grenzen der Zuständigkeit.

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