Großbritannien

Endspiel

Viele britische Konservative erkennen ihre eigene Partei nicht mehr. In Großbritannien vollzieht sich ein grundlegender Wandel. Stabiler wird das Land dadurch nicht.

Endspiel

Boris Johnson ist offenbar der Ansicht, Großbritannien noch bis in die dreißiger Jahre regieren zu können. Partygate ist für ihn abgehakt. Wolodymyr Selenskyi lässt ihn regelmäßig hochleben. Und Oppositionsführer Keir Starmer hat aus all den Steilvorlagen, die ihm Johnson lieferte, nichts gemacht. Doch die Regierungspartei könnte dabei auf der Strecke bleiben. Denn in den vergangenen Wochen hat sich gezeigt, wie brüchig die konservative Koalition aus dem liberalen Großbürgertum des Südens und den Sozialkonservativen aus dem englischen Norden geworden ist. Es ist kein Wunder, dass die Tories bei den jüngsten Nachwahlen auf beiden Seiten des Spektrums an Rückhalt verloren – im Norden ging ein Mandat an Labour, im Süden ein Sitz im Unterhaus an die Liberal­demokraten.

Viele Konservative erkennen ihre Partei nicht wieder. Unter Johnson wurden die Steuern nicht gesenkt, sondern erhöht – geradezu ein Sakrileg für die noch verbliebenen Anhänger von Margaret Thatcher in der Partei. Fast alle Chancen, die sich durch den Brexit boten, wurden liegen gelassen. Statt Freihandel stand auf einmal, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, Protektionismus auf der Tagesordnung. Nun will Johnson auch noch die von hohen Energiekosten gebeutelte britische Stahlindustrie durch Schutzzölle abschirmen – eine Idee, die vom Labour-Außenpolitiker David Lammy prompt befürwortet wurde. Statt auf Bürokratieabbau setzt man auf Big Government. Die Karrierebeamten von Whitehall haben weitgehend freie Hand. Während der Pandemie wurden gigantische Ausgabenprogramme aufgelegt. Statt das öffentliche Gesundheitswesen endlich zu reformieren, das zu den Erbhöfen von Labour ge­hört, wurden dem Milliardengrab NHS (National Health Service) immense Summen überantwortet, ohne dass dabei Bedingungen für Qualität oder Quantität des Angebots gestellt wurden. Während der Pandemie diktierten die Lehrergewerkschaften die Bedingungen, unter denen, wenn überhaupt, unterrichtet wurde. Nun drohen verheerende Streiks der Eisenbahner und des öffentlichen Dienstes.

Johnson kann man es nicht vorwerfen, dass er kein politisches Programm hat, keine Vision, wohin er das Land führen möchte. Er ist dafür bekannt, dass Selbsterhalt sein oberstes Ziel ist. Dass er sich als kleinster gemeinsamer Nenner an der Parteispitze halten kann, zeugt von der Orientierungslosigkeit der britischen Konservativen. Sein Versuch, die inhaltliche Leere durch ein umso vehementeres Bekenntnis zu Net Zero zu füllen, hat in den eigenen Reihen Befremden ausgelöst. Schließlich wissen die Hausbesitzer aus den Shires, was Wärmepumpen und die energetische Sanierung ihrer Altbauten kosten würden. Das parteiinterne Misstrauensvotum war erst der Anfang. Bei den Tories fliegt der Kitt aus den Fugen.

Bei Labour kennt man das schon. Dort sind die Zentrifugalkräfte unkontrollierbar ge­worden. Gewerkschaftsfunktionäre und Revolutionsromantiker stehen Vertretern der liberalen urbanen Eliten unversöhnlich gegenüber. Starmer hat es nicht einmal geschafft, sein Führungs­personal von den Streikpostenketten der Eisenbahner fernzuhalten. Der Blick über den Ärmelkanal zeigt, wohin das führt: In Frankreich ist das traditionelle Parteiensystem bereits 2017 implodiert. Die ehemaligen Volksparteien spielen keine große Rolle mehr. Seitdem geht es bei den Wahlen im Grunde nur noch darum, wie die extreme Rechte ein weiteres Mal vom Élysée-Palast ferngehalten werden kann.

Großbritannien könnte schon nach den nächsten Unterhauswahlen von einer wackeligen Dreierkoalition aus Labour, Liberaldemokraten und den schottischen Nationalisten von der SNP regiert werden. Der demografische Wandel dürfte dafür sorgen, dass die Tories traditionelle Hochburgen wie Cambridgeshire oder Surrey sukzessive an die Liberaldemo­kraten verlieren. Die von Labour verprellten Brexit-Befürworter im englischen Norden, die den Tories zuletzt eine atemberaubende Mehrheit im Parlament verschafften, könnten sich schnell enttäuscht abwenden. Schließlich hat es diese Regierung auch sechs Jahre nach dem Votum für den EU-Austritt nicht geschafft, für klare Verhältnisse mit den Nachbarn vom Kontinent zu sorgen. Und in vielen der hinzugewonnenen Wahlkreise war der Vorsprung der Tories ziemlich klein. Stabiler würde das Land durch so eine Dreierkoalition nicht, zumal die SNP nur ein Ziel verfolgt: die nationale Unabhängigkeit. Für Johnsons Großbritannien hat das Endspiel begonnen.

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