Es kommt anders, als man denkt
Die wohl häufigste Wunschformel unter den Neujahrsgrüßen war dieses Mal, dass 2023 besser als 2022 werden möge. Aber was heißt schon besser? Frieden auf Erden? Geldwertstabilität? Dax 16000? Der Jahreswechsel und die ersten Tage eines neuen Jahres sind für viele Menschen Anlass, nicht nur auf die erwartungsgemäß eingetretenen und die überraschenden Ereignisse des alten Jahres zurückzuschauen, sondern auch nach vorne zu schauen und Annahmen fürs neue Jahr zu treffen. Das reicht vom Blick in die Glaskugel beim vergnüglichen Bleigießen im privaten Kreis bis zu tiefgehenden Analysen über technologische und volkswirtschaftliche Entwicklungen und ihre Folgen für Länder, Branchen, Unternehmen, bis hin zu einzelnen Aktien. Je volatiler die Zeiten, desto größer das Bedürfnis nach Orientierung und entsprechend die Flut von Prognosen.
Gefühlt dürfte der Blick auf das vor uns liegende Jahr für viele Menschen selten so schwierig gewesen sein wie dieses Mal. Ob Krieg in der Ukraine, Pandemie-Geschehen in China, Energiekrise, Inflationsentwicklung und Rezessionsgefahr – schon die vom alten ins neue Jahr mitgenommenen Risiken sind schwer zu kalkulieren. Ganz zu schweigen von den heute noch nicht zu erahnenden Risiken, die uns in diesem Jahr überraschen werden. Aus gutem Grund hatte die Börsen-Zeitung deshalb für ihre Jahresschlussausgabe den Titel „Am Ende der Gewissheiten“ gewählt.
Wie schnell man mit vermeintlichen Gewissheiten falsch liegen kann, zeigt der Blick auf viele Prognosen zu Beginn des vergangenen Jahres. Kaum jemand hat den Krieg gegen die Ukraine, die zeitweilige Vervielfachung der Energiepreise oder zweistellige Inflationsraten vorhergesagt. Und in welchem Marktausblick standen die Kursabstürze von US-Big-Tech und auch Tesla, die Krypto-Pleiten, die staatliche Rettung von Uniper oder die Kursverdoppelung von Rheinmetall auf dem Zettel? Aber sollte man auf Prognosen nur deshalb verzichten, weil sie danebenliegen könnten?
Vorhersagen haben den Nutzen, dass man sich mit potenziellen Einflussfaktoren auseinandersetzen muss. Sie zu quantifizieren oder ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu schätzen, nimmt manch diffuser Wahrnehmung den Schrecken und macht Zukunft berechenbar, zumindest scheinbar. Wie leicht wir uns dabei allerdings selbst etwas vormachen und kognitiven Verzerrungen unterliegen, hat schon der Psychologe Daniel Kahnemann untersucht, der dafür vor 20 Jahren den Wirtschaftsnobelpreis erhielt.
Wer aber in Unternehmen ständig strategische Entscheidungen oder in der Finanzindustrie Anlageentscheidungen zu treffen hat, kommt nicht umhin, in Szenarien zu denken und Wahrscheinlichkeiten für Gewinne und Verluste festzulegen. Bedenken sollte er die in der Prospect Theory von Kahnemann beschriebenen kognitiven Verzerrungen, um die in der Natur des Menschen liegenden Selbsttäuschungen gering zu halten. Opfer kognitiver Verzerrung werden nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Gruppen und Institutionen. Man denke an die Europäische Zentralbank mit ihren Inflationsprognosen, an das Ausblenden geopolitischer Risiken durch globale Konzerne oder das sture Festhalten der Bundesregierung an ihrer Energiepolitik trotz völlig veränderter Marktverhältnisse.
Bei den Unternehmen steigt in unsicheren Zeiten wie diesen die Risikoaversion. Die Sorge, Verluste zu machen, wiegt stärker als die Aussicht auf Gewinne. Das kann so weit gehen, dass aus Angst vor einem eher unwahrscheinlichen Verlust auf die Chance zu einem beinahe sicheren Gewinn verzichtet wird. Investitionen fließen eher in den Erhalt des Status quo als in neue Geschäftsfelder. Die Korrektur der Gewinnerwartungen nach unten wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung.
Betroffen von einer solchen Negativspirale sind nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik und die Verwaltung. In ihrem Buch „Thinking the Unthinkable“ sind Nik Gowing und Chris Langdon der Frage nachgegangen, wie in einer Welt des immer schnelleren Wandels und zunehmender Unsicherheit Führung noch möglich ist. Ihre Befragungen von internationalen Führungspersönlichkeiten bestätigen im Ergebnis Kahnemanns Theorie. Die Angst, Fehler zu machen, herrscht nicht nur bei den Entscheidern an der Spitze vor, sondern ist ähnlich auch auf den mittleren Hierarchieebenen zu finden. Je größer eine Organisation, desto größer die Gefahr von Konformismus. Die Folge: Die Entscheider erhalten geschönte Lagebilder und fühlen sich oftmals in ihren (falschen) Entscheidungen bestätigt. Ein Argument mehr übrigens für Diversität.
Offen für Neues
Das naheliegende menschliche Verhalten, sich in Krisen und Zeiten großer Unsicherheit auf Bewährtes zu fokussieren und die Reihen zu schließen, ist jedoch gerade nicht die richtige Antwort auf Herausforderungen wie die des Jahres 2023. Wer nur das macht, was er immer schon gemacht hat und folglich beherrscht, wird die Zukunft nicht gewinnen. Wer den Status quo zelebriert und seine Ressourcen dafür einsetzt, aus dem schon sehr Guten mit immer größerem Aufwand das noch Bessere zu machen, wird in einer sich immer schneller wandelnden Welt zu den Verlierern gehören.
Die Treiber disruptiver Veränderung sind selten die etablierten Unternehmen. Ihnen fehlt, was Quereinsteiger und Start-ups auszeichnet, nämlich die im Angelsächsischen mit „Beginner’s Mind“ beschriebene Unbefangenheit. Nur eine Gesellschaft, die offen für Veränderung ist, und Unternehmen, die bereit sind, ausgetretene Pfade zu verlassen, werden auf Dauer Erfolg haben. Dem Philosophen Karl Popper verdanken wir die Erkenntnis, dass mit zunehmendem Wissen die Zukunft immer unvorhersehbarer wird. Wer aber seine Fähigkeit trainiert, mit Unvorhergesehenem zurecht zu kommen, den muss die Fehlerquote von Prognosen auch in diesem Jahr nicht stören.
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