Euphorie um BRIC-Aktienmärkte weicht der Ernüchterung
Ein beliebter Investment-Ansatz ist das Setzen auf Megatrends wie den Klimawandel und die Digitalisierung. Anleger hoffen, mit Aktien, die von den Trends überproportional profitieren, deutlich über dem Gesamtmarkt liegende Erträge erzielen zu können. Doch nicht immer geht die Rechnung so auf, wie sich das die Investoren zunächst vorstellen.
Ein prominentes Beispiel dafür ist die BRIC-Euphorie, die ab dem Jahr 2003 ausbrach. Hinter diesem Kürzel verbergen sich die großen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China. Aus der Taufe gehoben wurde BRIC Anfang des Jahrtausends durch den ehemaligen Head of Global Economic Research von Goldman Sachs, Jim O’Neill, der eine Studie mit Projektionen über das Wachstum und das BIP bedeutender Schwellenländer wie China und Indien veröffentlichte und dabei jenes Kürzel erfand. O’Neill ahnte nicht, was für eine Investment-Welle folgen sollte, und hat später auch erklärt, dass dies nie sein Ziel gewesen ist. In seiner ersten BRIC-Studie kam er lediglich zu dem Schluss, dass es angesichts der stark zunehmenden Bedeutung dieser Länder keinen Sinn mehr ergebe, dass die G7 Beratungen über weltwirtschaftliche Angelegenheiten ohne Teilnahme bedeutender Nationen wie insbesondere China abhielten.
Im Jahr 2003 legten Goldman-Sachs-Analysten mit einer Studie mit viel weiter in die Zukunft hinausreichenden Projektionen nach. Laut der Studie mit dem Titel „Dreaming With BRICs: The Path to 2050“, in der unter anderem die voraussichtliche demografische Entwicklung einfloss, würden die vier großen Schwellenländer nach Wirtschaftsleistung an einem Industrieland nach dem anderen vorbeiziehen. China würde die USA vom ersten Rang verdrängen, Indien 2050 vor Japan den dritten Platz belegen, Deutschland würde bis dahin von den auf den Rängen 5 und 6 liegenden BRIC-Ländern Brasilien und Russland überholt worden sein. Die Investoren und die Finanzbranche nahmen den Ball mit Begeisterung auf, BRIC-Anlageprodukte schossen wie Pilze aus dem Boden.
Nur noch BIC
Mittlerweile ist die BRIC-Begeisterung längst Geschichte, und der Angriff Russlands auf die Ukraine hat ihr den letzten Rest gegeben. Durch die westlichen Sanktionen ist Russland uninvestierbar geworden, BRIC wurde zu BIC reduziert. Russische Aktien wurden aus Indizes und Anlageprodukten entfernt, mit schmerzhaften Verlusten für die Anleger. Der BRIC-50-Index sackte von Mitte Februar bis Mitte März 2022 um nahezu 40% ab, weit stärker als der Schwellenländersammelindex MSCI Emerging Markets, der 17,5% verlor.
Dabei scheinen sich die Projektionen von Goldman Sachs, was das globale BIP-Ranking betrifft, zu bewahrheiten, die BRIC-Länder befinden sich machtvoll auf dem Vormarsch. Zur Jahrtausendwende lagen China, Brasilien, Indien und Russland auf Dollar-Basis auf den Plätzen 6, 10, 13 und 20 in der Rangliste der größten Volkswirtschaften. China befindet sich Stand 2021 schon seit langem auf Rang 2, Indien ist nach den Daten des IWF auf den sechsten Rang vorgerückt und liegt nur hauchdünn hinter Großbritannien, Russland ist von Rang 20 auf Rang 11 avanciert, Brasilien allerdings vom 10. auf den 13. Platz zurückgefallen. Was die Performance der Aktienmärkte betrifft, ergibt sich aus Sicht von in Hartwährungen, d. h. vor allem in Dollar rechnenden Anlegern jedoch ein eher ernüchterndes Bild. In den ersten Jahren nach jener Studie von Goldman Sachs zogen die Aktienmärkte der BRIC-Staaten beziehungsweise der Schwellenländer insgesamt denjenigen der Industrieländer davon. Anfang 2003 noch bei 186 Zählern, lag der BRIC-50-Index Anfang Oktober 2007, bevor die Hausse ins Stocken geriet, bei 1665 Punkten, ein Anstieg um nahezu 800%. Der auf Dollar lautende MSCI Emerging Markets zog im selben Zeitraum um 361% an, weit mehr als der Industrieländerindex MSCI World, der um 119% zulegte.
Im Umfeld der Großen Finanzkrise trat jedoch eine Wende zuungunsten der Emerging Markets ein. Anfang 2009, nach dem Kollaps von Lehman Brothers, lagen der FTSE BRIC 50 und der MSCI Emerging Markets bei 607 beziehungsweise 530, womit sie seit Anfang 2003 immerhin noch mit 226% und 82% im Plus lagen, während der MSCI World nur mit rund 9% im Plus lag. Seither sind jedoch die Aktienmärkte der entwickelten Volkswirtschaften den Emerging Markets davongezogen. Der MSCI Emerging Markets und der FTSE BRIC 50 liegen seit 2009 mit 81% und 31% im Plus, während der MSCI World mit einem Plus von 209% deutlich stärker zugelegt hat.
Bemerkenswert ist, dass die Wende in der relativen Performance im Umfeld der Großen Finanzkrise erfolgte. Anders als bei den Asien- und Russlandkrisen der neunziger Jahre lag die Ursache dieser Krise nicht in den Schwellenländern, sondern mit den USA in einem Industrieland. Gleiches gilt für die Euro-Staatsschuldenkrise, die über eine gestärkte Risikoaversion der Investoren die Schwellenländeraktienmärkte hemmte, sowie die eine ähnliche Wirkung entfaltende Ankündigung der Fed vom Frühjahr 2013, die Anleihekäufe zu reduzieren.
Starker Dollar belastet
Ein maßgeblicher Grund für die aus Sicht von dollarzentrierten Anlegern enttäuschende Performance ist die Währungsentwicklung. U. a. die genannten Krisen und die damit einhergehende Risikoaversion führten zu einer starken Aufwertung des Dollar. So lag etwa die Währung Brasiliens im Oktober 2003, als Goldman Sachs die BRIC-Studie veröffentlichte, bei 2,87 Real pro Dollar, um auf 1,55 Real pro Dollar im Juli 2011 zuzulegen, aus Sicht des Greenback eine Abwertung zum Real von 46%. Nach den erwähnten Krisen und einem zusätzlichen Schub durch die Corona-Pandemie liegt der Dollar derzeit aber bei 5,25 Real. Im Ergebnis hat er damit im Vergleich zum Real um 83% seit dem Oktober 2003 aufgewertet, was die Performance brasilianischer Aktien aus Sicht der US-Investoren deutlich reduziert hat. Das Gleiche gilt auch für die indische Rupie, gegen die der Dollar um 76% gestiegen ist, und für den Rubel. Von Oktober bis Mitte Februar 2022, ehe die verzerrenden Einflüsse des Ukraine-Krieges und der westlichen Sanktionen eintraten, wertete der Dollar zur russischen Währung um rund 150% auf. Lediglich gegen die gelenkte Währung Chinas, den Yuan, hat der Dollar seit dem Oktober 2003 abgewertet (–15%).
Anders als das Vorrücken der BRIC-Staaten im Ranking der größten Volkswirtschaften ist damit eine andere Annahme der Goldman-Sachs-Analysten bislang alles andere als aufgegangen. Im Oktober 2003 schrieben sie, dass die Währungen der vier Länder um bis zu fast 300% aufwerten könnten, der Yuan um 289%, die indische Rupie um 281%, der Rubel um 208% und der Real um 129%. In Landeswährung gerechnet sieht die Performance der Schwellenländer im Übrigen deutlich besser aus als auf Dollar-Basis. So hat etwa der brasilianische Bovespa seit Anfang 2009 in Landeswährung um 180% zugelegt, der BSE Sensex ist um 524% gestiegen, womit der indische Aktienmarkt der BRIC-Spitzenreiter ist.
Tiefgreifende Veränderungen
Die Ursachen für Underperformance der Schwellenländer sind vielfältig und gehen über von Risikoaversion ausgelöste Währungsschwäche hinaus. Im Laufe der zurückliegenden zwei Jahrzehnte sind tiefgreifende Veränderungen eingetreten. Die erste Dekade des Jahrtausends war u. a. von der zunehmenden Integration der Schwellenländer in die Weltwirtschaft beziehungsweise ihrer zunehmenden Verflechtung mit den entwickelten Volkswirtschaften geprägt, was zu einem Boom führte. Damit ging auch im Welthandel ein Boom einher. Ein weiterer Treiber des überproportionalen Wachstums der Emerging Markets war ihr – in vielfacher Hinsicht immer noch bestehender – enormer Nachholbedarf im Vergleich zu den Industrieländern, etwa was Konsumgüter des gehobenen Bedarfs betrifft. Rohstoffexportierende Länder erhielten von einer stark steigenden Nachfrage und dadurch steigenden Preisen enorme Impulse.
In der zweiten Dekade des Jahrzehnts änderte sich das Bild. Der von der zunehmenden Verflechtung ausgehende Impuls verlor an Kraft, hinzu kamen – u. a. von protektionistischen und populistischen Tendenzen sowie zuletzt Störungen der globalen Lieferketten getrieben – Deglobalisierungstendenzen. Damit ging eine erhebliche Wachstumsverlangsamung des Welthandels einher. Vor dem aktuellen Boom erlebten zudem die Rohstoffmärkte eine ausgeprägte Schwächephase. Im Ergebnis verlangsamte sich das Wachstum der Schwellenländer.
Ein wesentlicher Treiber der Underperformance der Emerging Markets geht allerdings von den Industrieländern, d. h. den USA aus. Der Technologiesektor war in den zurückliegenden Jahren das Zugpferd der globalen Aktienmärkte. Insbesondere die amerikanischen Mega Caps mit Marktkapitalisierungen von mehr als 1 Bill. Dollar wie Apple, Amazon und Microsoft haben geradezu magisch Anlegergelder angezogen und einen überproportionalen Anteil an der globalen Aktienmarktperformance auf sich vereint. Es gab eine lange Phase, in der die Investoren auf Growth-Aktien fokussiert waren, was zu Lasten der im Vergleich zu den USA Value-lastigeren Emerging Markets ging. Im Ergebnis hat der S&P 500 den MSCI Emerging Markets seit Anfang 2009 mit einem Anstieg um 372% noch deutlicher abgehängt als der MSCI World. Erst recht gilt das für den technologielastigen Nasdaq 100, der um 911% zugelegt hat.
Letztlich führt die Entwicklung vor Augen, dass simple Investment-Storys wie diejenige, die Teile der Finanzbranche aus jener ganz anders gemeinten BRIC-Studie von Goldman Sachs gemacht haben, langfristig nicht funktionieren können. Sie können die reale Komplexität ebenso wenig hinreichend abdecken wie die vielfältigen wirtschaftlichen Umbrüche im Zeitablauf. Für Schwellenländer gilt das in besonderem Maße, denn es handelt sich um ein sehr vielseitiges Anlageuniversum, das ökonomisch sehr unterschiedlich aufgestellte Länder wie etwa Kolumbien, Saudi-Arabien und Vietnam umfasst. Nicht erst seit in diesem Jahr das R aus dem Kürzel BRIC entfernt werden musste, ist zudem klar, dass passives Management in besonderem Maße im Fall der Emerging Markets nicht die erste Wahl sein kann. Gefragt ist der aktive Manager, der – hoffentlich – in der Lage ist, die aussichtsreichsten Einzelländer und Unternehmen auszuwählen und außerdem möglichst zeitnah auf sich stark verändernde Rahmenbedingungen zu reagieren. Gerade die aktuelle Lage zeigt dies deutlich. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg markieren eine solche Umbruchsituation, ebenso die neuerliche Intensivierung des Konflikts zwischen den Vereinigten Staaten und China.
Von Christopher Kalbhenn, Frankfurt