Europas umkämpfte Brandmauer
Europas umkämpfte Brandmauer
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist dabei, eine Mehrheit für ihre Wiederwahl zu organisieren. Die Gretchenfrage: Wie hält sie es mit den Parteien rechts von ihr?
Von Detlef Fechtner, Frankfurt
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht die Ergebnisse der Europawahl angepasst werden müssen. Etwa, weil sich das ungarische Bündnis Tisza oder die niederländische Bauernpartei der christdemokratischen Parteienfamilie anschließt. Oder weil die tschechische ANO aus der liberalen Gruppe ausschert, die damit weiter schrumpft. Kurzum: Im EU-Parlament ist reichlich Bewegung. Dabei gilt die Aufmerksamkeit indes weniger Christdemokraten oder Liberalen. Sondern der Frage, wie sich die Parteien am rechten Rand formieren. Denn sie haben Sitze gewonnen und ihre Position stärken können.
Kurz nach der Europawahl machten wieder einmal Pläne für eine vereinigte Rechte die Runde, also ein Bündnis aller Parteien rechts der Mitte. So trafen sich unbestätigten Berichten zufolge Rechtsaußen-Promis wie die Französin Marine Le Pen (Rassemblement National), der Niederländer Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid) und der Italiener Matteo Salvini (Lega) in Brüssel, um die Optionen zu sondieren. Derweil ist der ungarische Viktor Orbán (Fidesz) diese Woche bei Italiens Premier Giorgia Meloni (Fratelli d´Italia), um zu erörtern, was geht.
Eine ganz große politische Kraft am rechten Rand gilt allerdings als wenig realistisch. Dagegen spricht etwa, dass sich dann ja auch innerstaatliche Widersacher wie die Brüder Italiens und die Lega oder das Rassemblement National und die Reconquête verbünden müssten. Zudem passt die Tatsache, dass Le Pen kurz vor der Wahl darauf gedrungen hat, die AfD aus ihrem Rechtsaußen-Kreis zu schmeißen, ebenso wenig zu der Idee einer vereinigten Rechten wie die jüngste Meldung der „Frankfurter Allgemeinen“, der zufolge sich unter dem Namen „Die Souveränisten“ eine weitere Parteienfamilie auf EU-Ebene zu konstituieren versucht – neben EKR (Europäische Konservative und Reformer) und rechtsextremer ID (Identität und Demokratie).
Profilierung Richtung Mitte
Selbst erfahrenen Brüsseler Beobachtern fällt es schwer, noch den Überblick zu behalten. Während die programmatischen Unterschiede zwischen einzelnen Parteien oft verschwimmen, bildet sich ein strategischer Unterschied zusehends deutlicher heraus: Während einige ihre Radikalität nach wie vor pflegen, sind andere im Begriff, sich als bürgerliche Kräfte zu profilieren – mit dem Ziel, die Rolle als Dauer-Opposition abzustreifen. Das gilt insbesondere für den Rassemblement National in Frankreich.
Dieser beabsichtigte Rollenwechsel wiederum stellt die traditionellen Parteien vor die Frage, wie sie mit der Rechten umgehen. Bislang etwa haben Abgeordnete des Rechtsaußen-Bündnisses ID fast in keinem Dossier der Gesetzgebung federführende Aufgaben (als „Berichterstatter“) übernommen. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählen weitgehend technische Vereinbarungen. Mehr noch: Vertreter bürgerlicher Parteien berichten, dass Mitglieder der ID-Familie selten als Schattenberichterstatter an den Absprachen mit den Vertretern anderer Parteien teilgenommen hätten und sogar den Runden der Koordinatoren ferngeblieben seien. Doch genau das könnte sich jetzt ändern, wenn rechte Parteien verstärkt versuchen, als Parteien der Mitte wahrgenommen zu werden.
Wesentlicher Grund dafür, dass die Rechtsaußen bislang kaum parlamentarische Alltagsarbeit geleistet haben, war neben dem Desinteresse der Beteiligten, dass die bürgerlichen Parteien eine aktive Mitarbeit der Rechtsextremen verhindert haben.
„Cordon sanitaire“
Dieser „Cordon sanitaire“, ob als „Sperrgürtel“ oder „Brandmauer“ übersetzt, ist nun ins Zentrum politischer Debatten gerückt: Inwieweit ist ein differenzierender Umgang mit den einzelnen Parteien jenseits der christdemokratisch-konservativen Parteienfamilie angebracht? Zwar gibt es niemanden im Kreis der traditionellen Parteien, der widersprechen würde, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Rechten gibt. Selbst Sozialdemokraten räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass sich Meloni bisher EU-freundlicher als erwartet präsentiert hat, insbesondere bei den Themen Migration und Unterstützung der Ukraine. Allerdings sind Sozialdemokraten und Grüne ganz anderer Meinung als Christdemokraten, was daraus für die Arbeit im EU-Parlament folgt.
Bundeskanzler Olaf Scholz und SPD-Europa-Spitzenkandidatin Katharina Barley haben Ursula von der Leyen gedroht, dass die EU-Kommissionschefin nicht auf die Stimmen von Sozialdemokraten vertrauen könne, falls sie politisch auf Meloni zugehe, um sich auch die Stimmen der Fratelli d´Italia zu sichern. Demgegenüber haben mehrere Christdemokraten signalisiert, dass sie sich vorstellen können, sich von Melonis Partei unterstützen zu lassen – neben von der Leyen selbst Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber. „Ich habe unsere Brandmauer bei meiner Wahl vor zwei Jahren klar definiert: Wir werden nur zusammenarbeiten mit Parteien, die pro Europa sind, pro Ukraine und, drittens, pro Rechtsstaat“, betonte Weber jüngst in einem Interview. Die Brandmauer, so erklärte Spahn, verlaufe „im Europaparlament rechts von Melonis Partei.“
Freilich deuten ausgerechnet die prominentesten Vertreter des Rechtsaußen-Blocks wie etwa Le Pen an, dass es großes Interesse gebe, Meloni für ihr Parteienbündnis zu gewinnen. Le Pen will sich schließlich selbst stärker als Politikgestalterin denn als Protestlerin profilieren. Der jüngste Streit unter Frankreichs Republikanern zeigt den Zündstoff, den die Frage birgt, mit wem welche Form der Zusammenarbeit möglich ist. Wo die Brandmauer im Europaparlament verläuft, wird deshalb noch länger Gemüter erhitzen und Debatten bestimmen.