LeitartikelRegeln für den Wirtschaftsraum

Fliehkräfte in der Europäischen Union

Gemeinsames Regelverständnis ist im Sport eine Selbstverständlichkeit. In der EU scheint es eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Das bringt Fliehkräfte mit sich, die Pro-Europäer sorgen sollten.

Fliehkräfte in der Europäischen Union

Europäische Union

Fliehkräfte statt Fair Play

Von Sebastian Schmid

Gemeinsames Regelverständnis ist im Sport eine Selbstverständlichkeit. In der EU scheint es eher die Ausnahme zu sein.

Was im Sport gilt, das sollte auch im Wirtschaftsleben gelten. Regeln, die von den meisten (Markt-)Teilnehmern abgelehnt werden, haben auf Dauer keine Chance. In der Leichtathletik gab es etwa 2020 ein Beispiel dafür im Weitsprung. Der Sieger sollte künftig im sechsten Sprung nur noch unter den bis dahin besten drei der Konkurrenz ermittelt werden. Leistungen aus den ersten fünf Sprüngen zählten für den Sieg nicht mehr. Ergebnis: Der erste Gewinner, dessen Bestweite vier Zentimeter kürzer war als die des Zweitplatzierten, empfand den Sieg als unfair. Die Regel „Final 3“ überlebte nur gut ein Jahr, ehe die Funktionäre ein Einsehen hatten.

In der Europäischen Union erscheint derweil unklar, ob mit Blick auf die Spielregeln im Wirtschaftsraum eine vergleichbare Lernfähigkeit besteht. Das liegt schon daran, dass vielen Marktteilnehmern weniger an fairem Wettbewerb gelegen ist als etwa im Sport. So treten Branchen in Brüssel selten in trauter Einigkeit auf. Im deutschen Bankensektor können sich ja nicht einmal die drei Säulen auf eine gemeinsame Vorstellung zur Kapitalmarktunion verständigen. Grenzüberschreitend herrscht erst recht keine Einigkeit. Und selbst wenn eine Branche quasi unisono vor den Folgen einer Regulierung warnt, wird das zuweilen ignoriert, wenn eigene Vorstellungen der Branchenexpertise entgegenstehen – wie im Fall der Strafzölle auf E-Autos aus China. Neben der deutschen Autoindustrie warnte auch der Chef des französisch-italienischen Autobauers Stellantis, Carlos Tavares, die EU vor einem Eigentor. Die Maßnahme werde europäische Werksschließungen beschleunigen, statt zu verlangsamen, hat er gerade erst wieder am Rande des Pariser Autosalons in der vergangenen Woche betont.

Kuhhandel beim Regelwerk

Doch selbst mit Unterstützung aus dem Nachbarland finden deutsche Industrieinteressen in Brüssel derzeit scheinbar kein Gehör. Fallen die deutschen und französischen Interessen auseinander, behalten die westlichen Nachbarn ohnehin die Oberhand. Jüngstes Beispiel ist die weitere Ausgestaltung der Europäischen Batterieverordnung. Neben dem Automobilverband VDA gehen hier auch BDI, VCI (Chemie), ZVEI (Elektroindustrie) und VDMA (Maschinenbau) auf die Barrikaden. Der Vorschlag, der aktuell auf dem Tisch liegt, sieht vor, dass für die Klimabilanz einer Batterieproduktion der nationale Strommix als Berechnungsgrundlage gelten soll. Wenn der tatsächliche Strommix vor Ort aber außen vor wäre, fiele die Klimabilanz von in Deutschland hergestellten Batterien stets schlechter aus. Denn hierzulande wird ein signifikanter Anteil am Strommix in Kohlekraftwerken erzeugt. Demgegenüber setzt Frankreich primär auf Kernenergie.

Dass Deutschland einen weitaus höheren Anteil an echten Erneuerbaren hat, ist dann egal. Denn Atomstrom, der hierzulande als nicht sicher genug eingestuft wurde, gilt in der EU als nachhaltig. Dem hat Deutschland in einem Kuhhandel mit Frankreich zugestimmt und dafür Gaskraft als grüne Technologie durchsetzen können. Ein mieser Deal, wie sich nun zeigt. Steht die Gaskraft doch nur für 10,5% der deutschen Stromerzeugung, Atomstrom aber für 67% der französischen. Die Naivität der deutschen Verhandlungsführer in Brüssel scheint sich hier zu rächen.

Kein „Fair Play“ zwischen den Staaten

Ähnliches gilt für den ausgehandelten Stabilitätspakt, der zur Folge hat, dass Deutschland, obwohl deutlich geringer verschuldet als Frankreich oder Italien, den Gürtel nun noch enger schnallen soll als aufgrund der eigenen Schuldenbremse ohnehin vorgesehen. Und die Bundesregierung will sich daran halten, um Vorbild zu sein. Derweil ist gegen Frankreich zwar ein Defizitverfahren eingeleitet worden. Allein zu echter Ausgabendisziplin ist Paris bislang nicht bereit. Erst 2029 will das Land die 3%-Defizitgrenze wieder einhalten, die seit Jahren deutlich gerissen wird. Auch in diesem Bereich gilt also kein „Fair Play“ in Europa. Pro-Europäer sollten das mit Sorge beobachten. Ohne ein gemeinsames Verständnis fairer Regeln und wie diese anzuwenden sind, ist die EU zum Scheitern verdammt. Momentan geht die Entwicklung leider in eine andere Richtung. Die Fliehkräfte in Europa nehmen zu.