Frankreichs Reise ins Ungewisse
Frankreichs Reise ins Ungewisse
Haushaltspolitik, Rentenreform, Defizit- und Schuldenabbau: Frankreich muss eine Fülle von wirtschaftspolitischen Herausforderungen bewältigen
wü Paris
von Gesche Wüpper, Paris
Das war ein deutlicher Warnschuss. Nach einem fast zweijährigen Wachstum ist Frankreichs Wirtschaft im Schlussquartal 2024 um 0,1% geschrumpft. Der unerwartete Rückgang zeigt, wie dringlich es für die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist, die seit den Neuwahlen im Sommer herrschende politische Ungewissheit zu beenden. Dafür müssen die Abgeordneten der Nationalversammlung jetzt als erstes ihre Unstimmigkeiten überwinden und dafür sorgen, dass Frankreich endlich einen Haushalt für 2025 bekommt. Nur so können Probleme wie das hohe Defizit und die hohe Staatsverschuldung angegangen werden.
Ersten Misstrauensantrag überstanden
Die neue Regierung von Premierminister François Bayrou hat zumindest einen ersten Misstrauensantrag überstanden. Doch um sich die Stimmen der sozialistischen Abgeordneten zu sichern, musste sie bereits einige Zugeständnisse machen. Bayrou hat deshalb nicht nur zusätzliche Ausgaben im Gesundheits- und Schulwesen gebilligt. Er hat auch veranlasst, dass die von weiten Teilen der Opposition und der Bevölkerung wegen der Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre kritisierte Rentenreform von den Sozialpartnern neu verhandelt wird. Präsident Emmanuel Macron hatte die Reform 2023 trotz wochenlanger Proteste und Streiks ohne Abstimmung durchsetzen lassen.
Neuer Misstrauensantrag droht
Noch haben die Verhandlungen über die Rentenreform nicht richtig begonnen. Stattdessen tasten die Sozialpartner ihre Positionen ab. Sie wollen zunächst abwarten, ob die Regierung Bayrou den nächsten Misstrauensantrag übersteht, der ihr jetzt im Rahmen der haushaltspolitischen Debatte droht. Wegen den unklaren Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung dürfte sie den Haushalt ohne Abstimmung mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 verabschieden. Dies gibt der Opposition die Möglichkeit, in den folgenden 24 Stunden einen Misstrauensantrag zu stellen.
Bayrou habe im Vergleich zu seinem Vorgänger Michel Barnier bessere Chancen, einen solchen Antrag zu überstehen, glauben Beobachter. Dabei drohten die Verhandlungen über den Haushalt in den letzten Tagen zu scheitern. Wegen umstrittenen Äußerungen Bayrous im Zusammenhang mit Immigranten hatten die Sozialisten die Gespräche zunächst abgesagt. Am 31. Januar konnte sich die gemischte paritätische Kommission des Parlaments, der je sieben Vertreter der beiden Kammern angehören, dann aber doch auf einen Kompromiss einigen.
Sozialisten und RN machen Druck
Selbst der jetzt gefundene Haushaltskompromiss garantiert jedoch nicht, dass die Regierung einem Misstrauensantrag entgeht. Er könnte ihr bereits in der ersten Februarwoche drohen. Sowohl der Rassemblement National (RN) als auch Sozialisten haben zuletzt nicht ausgeschlossen, dafür zu stimmen. Der RN ist gegen die im Haushaltsentwurf vorgesehene Nachfolgeregelung für den Ende 2025 auslaufenden Atomstrom-Fördermechanismus ARENH (Accès réglementé à l‘électricité nucléaire historique). Die Regelung dürfte den Strom teurer machen.
Die Sozialisten wiederum hatten vergeblich gefordert, dass die Umsatzbemessungsgrenze der geplanten vorübergehenden Sondersteuer auf große Unternehmen so abgesenkt wird, dass sie auch für Internetriesen gilt. Stattdessen hat die paritätische Kommission beschlossen, dass die Sondersteuer nur ein und nicht zwei Jahre wie ursprünglich vorgesehen gelten soll. Auch mit anderen Vorschlägen wie der Erhöhung der geplanten Steuern auf Aktienrückkaufprogramme und einer Anhebung des Mindestlohns Smic kamen die Sozialisten nicht durch.
Zu optimistische Prognosen
Ziel sei nach wie vor, das Defizit in diesem Jahr von 6,1% auf 5,4% zu senken, erklärte Macrons Partei Renaissance nach der Einigung der paritätischen Kommission. Viele Experten bezweifeln jedoch inzwischen, dass dieses Defizitziel erreicht werden kann. Dies, obwohl es bereits weniger ehrgeizig als das der Anfang Dezember gestürzten Regierung von Michel Barnier ist. Das Defizitziel böte wenig Sicherheitsspielraum, warnt etwa der Hohe Rat für Finanzen. Denn es beruhe auf noch vom Parlament zu bestätigenden Maßnahmen, vor allem aber auf zu optimistischen makroökonomischen Prognosen. So gehe der Haushaltsentwurf von einer Wachstumsprognose von 0,9% aus. Ökonomen erwarten dagegen im Schnitt nur 0,7%.
Seit bekannt wurde, dass die französische Wirtschaft im Schlussquartal 2024 geschrumpft ist, haben einige Konjunkturforscher ihre Vorhersagen sogar weiter gesenkt. ING France-Ökonomin Charlotte de Montpellier rechnet inzwischen damit, dass das Bruttoinlandsprodukt 2025 nur 0,6% zulegen wird. „Die Unsicherheit, die den Haushalt für 2025 umgibt, und ein möglicher Sturz der Regierung Bayrou belasten die Binnennachfrage weiterhin“, urteilt sie. Es bestehe die Gefahr, dass sich das in den kommenden Monaten fortsetze. Vor allem dürfte sich der Haushaltskonsum nicht beschleunigen.
Sozialpläne und Pleiten
Die Konsumausgaben sind traditionell einer der wichtigsten Wachstumsmotoren der französischen Wirtschaft. Doch in letzter Zeit häuften sich die schlechten Nachrichten. So hat sich die Zahl der Arbeitssuchenden im Schlussquartal 2024 nach Angaben des Arbeitsministeriums im Vergleich zum Vorquartal um 3,9% erhöht. Mit so einem starken Anstieg habe man in einer Phase ohne Rezession nicht gerechnet, sagte Ökonom Eric Heyer vom Wirtschaftsforschungsinstitut Observatoire français des conjonctures économiques (OFCE) dem Radiosender „Franceinfo".
Damit nicht genug. Nach Auslaufen der Corona-Hilfen mehren sich auch die Firmenpleiten. Mit 65.764 sind sie 2024 laut der Banque de France um 16,8% auf einen neuen Höchststand gestiegen. Andere Konzerne haben so wie Arcelor Mittal, Michelin und Valeo Werksschließungen angekündigt. Mehr als 300 Sozialpläne werden derzeit umgesetzt, erklärt die Gewerkschaft CGT. Dadurch seien fast 300.000 Arbeitsplätze in Gefahr. Die Banque de France geht davon aus, dass die Arbeitslosenquote von zuletzt 7,4% bis Ende des Jahres auf 7,8% zulegen könnte. All das droht, das Wachstum weiter zu belasten.
Wettbewerbsfähigkeit bedroht
„Zur Unsicherheit, was das BIP-Wachstum angeht, kommt die noch größere Unsicherheit hinsichtlich der Steuereinnahmen hinzu“, meint Bruno Cavalier, der Chefökonom von Oddo BHF. „Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass die Einnahmen in den Prognosen zu hoch geschätzt worden sind.“ Wie andere Ökonomen bemängelt Cavalier zudem, dass der Haushaltsentwurf bei Ausgabenreduzierungen viel zu vage bleibt. In der Vergangenheit habe Frankreich nie wirklich seine Ausgaben gekürzt, urteilt Nicolas Bouzou, der Leiter der Wirtschaftsberatung Asterès. Bei Verfehlungen der Haushaltspolitik habe man Steuern erhöht anstatt Kosten zu sparen.
Deshalb ist Frankreich mit einer Staatsquote von 57,3% Spitzenreiter in der Eurozone. Mit einer Steuerquote von 46% liegt das Land ebenfalls über dem Durchschnitt der Eurozone. „Die Produktionssteuern für Unternehmen sind zwar etwas gesunken, doch sie liegen noch immer über dem Schnitt der Eurozone“, erklärt Olivier Klein, der Chef von Lazard Frères Banque. Die Abgaben weiter zu erhöhen, sei keine gute Idee, weil sie schon sehr hoch seien, sagte er auf einer Veranstaltung der Bankenvereinigung OCBF. „Das würde der Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs schaden.“
Wut bei Unternehmern steigt
In den vergangenen Wochen haben auch sich immer mehr Unternehmenschefs besorgt gezeigt. Die geplante Sondersteuer auf Großkonzerne sei ein Anreiz für Unternehmen, ihre Produktion zu verlagern, kritisierte LVMH-Chef Bernard Arnault. In Unternehmenskreisen sei eine steigende Wut spürbar, erklärte der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Medef, Patrick Martin.
Zankapfel Rentenalter
Er hat bereits angekündigt, dass es für seinen Verband nicht in Frage kommt, bei den geplanten Verhandlungen über die Rentenreform das Renteneintrittsalter wie von einem Teil der Opposition und Gewerkschaften gefordert wieder auf 62 Jahre zu senken. Jede Abkehr von der Reform Macrons werde von den Finanzmärkten abgestraft, befürchtet er. „Egal von welchem Blickwinkel aus man das Problem betrachtet, ist nicht erkennbar, wie man nicht zu der Schlussfolgerung kommen könnte, dass die Beitragszahlungen verlängert werden müssen“, meint Oddo BHF-Chefökonom Cavalier.
Schuldendienst wiegt immer mehr
Der liberale Thinktank Institut Montaigne hat in einem im Oktober 2024 veröffentlichten Bericht zur Frage, wie Frankreich innerhalb der nächsten zehn Jahre 150 Mrd. Euro einsparen kann, empfohlen, das Renteneintrittsalter bis 2050 auf 66 Jahre zu erhöhen und die Renten vier Jahre lang nicht an die Inflation anzupassen. Allein das könnte zusammen 59 Mrd. Euro bringen, so die Autoren des Berichts.
Olivier Klein von Lazard glaubt, dass in den nächsten Jahren rund 120 Mrd. Euro nötig sind, um das Primärdefizit auf Null zu senken. Derzeit liegt es bei rund 4%, während die Staatsverschuldung mit mehr als 3,3 Bill. Euro fast 114% des BIP beträgt. „Der Schuldendienst wiegt immer schwerer“, warnt er. Von 55 Mrd. Euro 2024 dürfte 2025 auf 63 Mrd. Euro steigen, 2026 dann auf 71 Mrd. Euro.