Konjunkturprognose

Großbritannien setzt zum Sprung an

Wer an die mitunter sehr düstere Berichterstattung über die Folgen des britischen EU-Austritts geglaubt hat, wird sich die Augen reiben. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass das Vereinigte Königreich im kommenden Jahr...

Großbritannien setzt zum Sprung an

Von Andreas Hippin, London

Wer an die mitunter sehr düstere Berichterstattung über die Folgen des britischen EU-Austritts geglaubt hat, wird sich die Augen reiben. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass das Vereinigte Königreich im kommenden Jahr schneller wachsen wird als alle anderen entwickelten Volkswirtschaften. Der Export in die EU erholt sich, Bankvolkswirte nehmen ihre Schätzungen für das Wirtschaftswachstum ebenfalls nach oben und die angebliche massenhafte Abwanderung von EU-Bürgern, die vor kurzem Schlagzeilen machte, fand in dieser Form nicht statt. Goldman Sachs hält es für wahrscheinlicher, dass um die 200 000 Menschen das Land verlassen haben. Die Wissenschaftler Michael O’Connor und Jonathan Portes hatten in einem vielzitierten Artikel für das Economic Statistics Centre of Excellence 1,3 Millionen angesetzt – allerdings mit Warnhinweisen, die in der medialen Berichterstattung weitgehend ignoriert wurden.

„Helikoptergeld“ wird für einen ersten Wachstumsschub nicht nötig sein. Der Lockdown sorgte nach Schätzung von Pantheon Macroeconomics dafür, dass die privaten Haushalte auf überschüssigen Ersparnissen im Volumen von 150 Mrd. Pfund sitzen – rund 7 % des Bruttoinlandsprodukts. Die teilweise Lockerung der Ausgangsbeschränkungen in der vergangenen Woche hat bereits einen ersten Eindruck davon vermittelt, was passiert, wenn sich die aufgestaute Konsumlust Bahn bricht. Der scheidende Chefökonom der Bank of England, Andy Haldane, verglich die britische Wirtschaft mit einer „zusammengedrückten Sprungfeder“, die demnächst eine Menge finanzielle Energie freisetzen könnte. In den Retail Parks auf der grünen Wiese näherte sich das Publikumsaufkommen am ersten verkaufsoffenen Wochenende bereits wieder den im Jahr vor der Pandemie erreichten Werten.

Betrachtet man den ganzen Einzelhandel, waren allerdings rund ein Viertel weniger Briten auf Einkaufstour als 2019. Noch sitzt die Angst vor dem Virus tief. Es haben auch noch nicht alle Läden wieder offen. Die Grundlage für die vorsichtige gesellschaftliche Öffnung lieferte das erfolgreiche Impfprogramm der britischen Regierung. Bislang haben 33 Millionen Menschen eine erste Impfdosis gegen Sars-CoV-2 erhalten, mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung. Zehn Millionen haben bereits beide Dosen verabreicht be­kommen. In seinem jüngsten World Economic Outlook unterstellt der IWF, dass Großbritannien in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 5,3 % an der Eurozone (4,4 %) vorbeiziehen wird (siehe Grafik). Für das kommende Jahr erwartet der IWF eine Expansion von 5,1 %.

Die Briten verprassen das ganze Geld, das sie im vergangenen Jahr nicht für Pub- und Restaurantbesuche, Coffee to go oder Wochenendtrips an die Costa Blanca ausgegeben haben, aber nicht in einem kurzfristigen Kaufrausch. Viele haben Kreditkartenschulden abgetragen. Einer Umfrage von First Mortgage zufolge haben mehr als zwei von fünf britischen Eigenheimbesitzern (44 %) ihre Hypothekenrestschuld durch Sondertilgungen reduziert. Zudem liegt viel Geld auf Girokonten und leicht zugänglichen Sparkonten. „Der Umstand, dass die Leute in diesem Umfeld immer noch so viel sparen, zeigt, dass der Wunsch nach einem Sicherheitsnetz eher der Treiber ist, als die Möglichkeit, Zinsen zu erzielen“, sagt die Analystin Susannah Streeter von Hargreaves Lansdown. Die großen Banken hätten so viel Liquidität wie sie wollten, sie bemühten sich deshalb mit Zinssätzen von 0,01 % aktiv, keine weiteren Sichteinlagen anzuziehen.

Immobilienpreise steigen

Man darf allerdings davon ausgehen, dass Banken und Hypothekenanbieter die Kreditnachfrage mit günstigen Angeboten ankurbeln werden, um das ihnen zufließende Geld für sich arbeiten zu lassen. Dazu gehören Angebote für Eigenheiminteressenten, die nicht einmal 10 % des dafür erforderlichen Eigenkapitals zusammenbringen. Wer sich bis zur Halskrause verschulden will, wird die Gelegenheit dazu bekommen – auch bei weniger guter Bonität. Für Besitzer von Wohnimmobilien sind das großartige Neuigkeiten. Wie das Immobilienportal Rightmove mitteilt, lagen die Preise der im April neu angebotenen Objekte im Schnitt um 2,1 % höher als im März. Einen derartigen Anstieg habe es in den zurückliegenden fünf Jahren nur zwei Mal gegeben, sagt Tim Bannister, der bei Rightmove für Immobiliendaten verantwortlich zeichnet. Und bislang gingen noch jedem Boom in Großbritannien steigende Immobilienpreise voran.

Aber nicht nur die Verbraucher sind bester Laune. Der Optimismus der Finanzchefs großer britischer Unternehmen bewegte sich bei der jüngsten Befragung durch die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte auf Rekordniveau. Der Anteil derjenigen, die glauben, dass die Pandemie zu einem Rückgang der Investitionen in den nächsten drei Jahren führen wird, ging von 65 % im vergangenen Sommer auf 19 % zurück. Der Anteil derjenigen, die mit weniger Neueinstellungen rechneten, reduzierte sich im selben Zeitraum von 74 % auf 29 %. Auch andernorts bleibt nicht unbemerkt, dass sich die Stimmung in Großbritannien aufhellt. Die jährliche CEO-Um­frage von PwC zeigt, dass 11 (i.V. 9) % das Land als Ziel für Investitionen zu den Top 3 weltweit zählen. In der Volksrepublik China sind es 13 (3) %, in Indien fast ein Viertel.